"Die Leute hängen in den Seilen"

Die Jugend von heute wird später erwachsen, behaupten Psychologen und finden im "Hotel Mama"-Lebensentwurf keinen Anlass zur Beunruhigung, sondern ein neues entwicklungspsychologisches Lebensstadium

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So war das früher, erzählen die Älteren: Schulabschluss, das Elternhaus verlassen, finanziell unabhängig werden, Heirat, Kinder. So ist das schon lange nicht mehr. Statistiken, wie sie ein New York Times-Bericht zur Illustration der veränderten Zeiten bringt, sind keine News mehr: 1960 hatten 77 Prozent der Frauen und 65 Prozent der Männer alle diese 5 Wegmarken geschafft, bevor sie Dreißig waren. Im Jahr 2000 waren es weniger als die Hälfte der Frauen und ein Drittel der Männer; verwiesen wird darüberhinaus auf eine kanadische Studie, in der es heißt, dass ein "typischer Dreißigjähriger" 2001 die Milestones geschafft hat, die in den frühen 1970ern ein 25-Jähriger hinter sich hatte.

Die Jugend von heute wird später erwachsen, heißt die These eines mehr als zehn Seiten langen Artikels in der New York Times, der lange Zeit die Most-Popular-Liste anführte. Wie die Länge des Zeitungsfeatures schon vermuten lässt, begnügt man sich nicht mit einfacheren Antworten zum "Hotel-Mama"-Phänomen, sondern hängt das Thema sehr hoch: Ob es denn nicht vielleicht ein bislang unbezeichnetes neues Lebensstadium gebe, welches die Verzögerungen, "the changing timetable for adulthood", besser erkläre.

Verfechter dieser Ansicht ist der Psychologieprofessor Jefferey Jensen Arnett, der mit seiner Idee einer neuen, distinkten Entwicklungsphase des Menschen, die er "emerging adulthood" nennt, gut verkäufliche Bücher schreibt und sich einen Namen innerhalb der Kollegen im Fach "Entwicklungspsychologie" schaffen will; er steht auch im Zentrum des Artikels, der die ewig unverständlichen 20-Jährigen ("black boxes") dem Leser-Publikum näher bringen will.

Auf Deutsch sind Arnetts Annahmen ausführlich hier zu finden: sie etablieren eine neue Zwischenzeit, ein "entwickelndes Erwachsensein", keine verlängerte Adoleszenz, sondern eine eigenständige Phase vom späten Jugendalter bis in die späten 20er Jahre, "27 ist heute 17". Der neue Raum der "emerging adulthood" spiegele den wirtschaftlichen Wandel und den der sexuellen Sitten wider. Höhere Ausbildungsanforderungen der Wirtschaft führe zu längeren Ausbildungszeiten, regelmäßiges Sexualleben verlange keinen Trauschein mehr, ungewollte Schwangerschaft lasse sich verhüten und führe nicht mehr zu Zwangsehen. Heirat gelte überdies nicht länger als Kriterium für Erwachsensein.

"Das subjektive Gefühl dafür, erwachsen zu werden, entwickelt sich somit über mehrere Jahre. Fragt man Jugendliche zwischen 17 und 27, ob sie sich erwachsen fühlen, lautet die häufigste Antwort weder 'ja' noch 'nein', sondern 'teilweise ja, teilweise nein'. Auch dieses Muster gilt einheitlich über Länder und Kulturen hinweg."

Man müsse sich aber keine Sorgen machen, so Arnett, dass die heutigen 20-Jährigen "nie erwachsen würden". Nein, es dauere nur länger als bei ihren Eltern oder Großeltern. Es gebe in der Gesamtschau eher Grund zu Freude:

"Insbesondere in Europa ist das Entstehen der 'emerging adulthood' ein bemerkenswertes Phänomen. Heute ist es für junge Menschen kaum zu fassen, dass Europa vor weniger als 70 Jahren in Schutt und Asche lag als Folge des gewalttätigsten und zerstörerischsten Kriegs der Geschichte. Heute, nur wenige Jahrzehnte später, ist Europa die wohlhabendste, friedlichste, humanste Region auf der Welt. Die 'emerging adults' sind die Erben dieser bemerkenswerten Errungenschaft. Wir sollten uns über ihre Freiheiten und Möglichkeiten freuen und ihnen für die Verwirklichung ihrer Träume alles Gute wünschen."

Eine rosige Gesamtschau mit ein paar blinden Flecken. Der Zusammenhang zwischen dieser Freiheit und Möglichkeiten und den wirtschaftlichen Bedingungen wird nur sehr pauschal hergestellt mit der Behauptung vom "Wohlfahrtsstaat". Dass wie unlängst die Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zeigten, vor allem Jugendliche die Verlierer der Krise sind und ihre Arbeitslosigkeit weltweit angestiegen ist, markiert schon einen Kritikpunkt, den Kollegen von Arnett anführen: Sein neu postuliertes Entwicklungsstadium ist nicht universell gültig, bestenfalls für bestimmte Regionen und wahrscheinlich auch nur für bestimmte Schichten in den privilegierten Zonen. Anderswo ist sogar die Kindheit schnell zu Ende, weil das Geld für "Freiheiten und Möglichkeiten" fehlt.

Zum anderen übt der wirtschaftliche Druck, die Aussicht darauf, keinen der knappen Arbeitsplätze zu ergattern, schon längst Effekte auf das Heranwachsen aus, über die Mittdreißiger verwundert ihre Köpfe schütteln:

"Bei meiner Abirede hat der Direktor gesagt: Ihr könnt alles werden - Nobelpreisträger, Astronaut, Bundeskanzler. Heute teilt man Abiturienten mit: Wenn ihr euch nicht anstrengt, landet ihr bei Hartz IV. Einen härteren Kontrast kann ich mir nicht vorstellen. Dazwischen liegen bloß 15 Jahre." Jörg Harlan Rohleder

Am Ende der 1980er Jahre, so ein bemerkenswertes Ergebnis des New York Times-Artikel, gaben weniger als die Hälfte der Eltern bei einer Studie an, dass sie ihren Kindern im letzten Monat Unterstützung in Form von Ratschlägen bei alltäglichen Problemen gegeben hätten. 2008 waren es 68 Prozent. Angesprochen darauf, ob sie ihre Kinder "praktisch", mit Geld oder anderer Hilfeleistung, unterstützt hätten, bejahten zwei Drittel der Eltern dies für den vergangenen Monat. 1988 war das noch ein Drittel.

"In ihren Biographien der Zukunft heißt es dann, "Ich bekam meinen ersten Job bereits mit 30, obwohl ich doch (noch) ein Mädchen war." Glücklicherweise bleiben die Omas bis 90 am leben, so dass die Kids bis 50 an der Pension mitzehren können. Die Leute hängen in den Seilen, weil es keine gesellschaftlichen Zielvorgaben gibt." Aus einer Mail an die Redaktion