Alle sind dumm und Google ist schuld (III): Die Wikipedia

Artikel Nummer drei in einer kleinen Reihe

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Klitzekleine Vorbemerkung:

Dies ist Artikel Nummer drei in einer kleinen Reihe, in der es im wesentlichen darum geht, zu zeigen, was 'Onliner der Generation 2.0' so alles lernen (können, wenn sie wollen). Es ist weder beabsichtigt noch möglich noch sinnvoll, das hier erwähnte Wissen jeweils auch darzustellen. dazu wäre eher eine Buchreihe und eine begleitene Seminarveranstaltung geeignet. Oder man macht einfach das im Artikel erwähnt und lernt "by doing." Und wie immer finden sich eigentlich alle nötigen Tipps und Infos "im Netz" (Überraschung).

Frühere Folgen: * Alle sind dumm und Google ist schuld * Alle sind dumm und Google ist schuld (II): Die Blogger

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Macht das Internet uns dumm? Ist die Wikipedia das Ende des akademischen Arbeitens bei ihren Nutzerinnen und Nutzern und erzeugt es eine Horde von erbsenzählenden Soziopathen auf der Seite ihrer Ersteller? Ich habe einen deutschen Wikipedianer kurz von seinem Webbrowser weg gezerrt und ihn zu einer Chat-Session gebeten.

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Oliver Gassner: Hallo Florian.

Florian Straub: Hallo Oliver

Oliver Gassner: Kannst du kurz beschreiben, was du bei der Wikipedia so machst oder früher gemacht hast?

Florian Straub: Ich habe klein angefangen und immer wieder ein paar Dinge ergänzt. Dann bin ich auch der Suche nach Arbeit irgendwann über einige Wartungslisten gestolpert und habe dann auch an Artikeln gearbeitet, auf die sich sonst nie gekommen wäre.

Oliver Gassner: Erkilärst du kurz, was Wartungslisten sind?

Florian Straub: Dabei handelt es sich um Listen mit Artikeln, an denen etwas getan werden muss. Als Beispiel sei hier Redundanz: Wikipedia:Redundanz genannt.

Oliver Gassner: Und zu welchen Themen hast du so alles Wikipediatexte erstellt, ergänzt oder überarbeitet?

Florian Straub: Wirklich begonnen habe ich Flominator#Begonnene_Artikel_.28Auswahl.29: relativ wenige Artikel, ergänzt und überarbeitet habe ich Artikel aus sehr vielen Bereichen wie Musik, Wirtschaft, Geschichte und auch sehr viele triviale Dinge, die es mir am meisten angetan haben. Als Autor kann ich nur sagen, dass ich über meine Arbeit an der Wikipedia sehr viel gelernt habe, auch über meine Heimat, was ich ohne sie nie erfahren bzw. wissen wollen hätte. Beispielsweise war ich vor einigen Monaten mit meiner Freundin in St. Märgen, wo sich ein Glassarkophag befindet, in dem ein Skelett liegt. Ohne Wikipedia wären wir schon einmal nicht nach dort gefahren, da ich Fotos für den Artikel machen wollte. Außerdem hat mich dann natürlich interessiert, wessen Überreste dies wohl waren. In der Wikipedia fand sich nichts dazu - super, dann kann man es schon selbst suchen :) Ein paar Tage später ging ich in der Mittagspause in die Stadtbibliothek von Freiburg und wühlte in Chroniken über das Kloster St. Märgen. Das Ergebnis war, dass ich lernte, was ein Katakombenheiliger ist.

Oliver Gassner: Die Wikipedia wird ja immer wieder als "Hausaufgabenquelle" genannt und dient als eines der Beispiele dafür, dass man dumm bleibe, wenn man das Web benutzt. wie siehst du das?

Florian Straub: Zum Thema Wikipedia als Hausaufgabenquelle kann man nur immer wieder sagen: Wikipedia ist eine Enzyklopädie und Enzyklopädien sind nicht zitierfähig. Das gilt für die Wikipedia ebenso, wie für den Brockhaus.

Oliver Gassner: Taugt eigentlich die Wikipedia als Ersatz einer Papier- oder Digital-Enzyklopädie oder übernimmst sie sich da? Und wie sieht es aus deiner Sicht mit der Verlässlichkeit der Informationen aus?

Florian Straub: Mir hilft die Wikipedia oft beim Lernen, da man zu jedem Thema einen schnellen Überblick bekommt, wenn man in der Vorlesung einmal etwas nicht verstanden hat. Ein Fachbuch zum Thema ersetzt sie jedoch nicht.

Oliver Gassner: Gut, man lernt sicher einiges über die Themen, zu denen man Artikel verfasst oder ergänzt, aber wie sieht es mit generell verwertbaren Kenntnissen aus? Katakombenheilige helfen einem im echten Leben ja nicht sooo oft weiter. -Oder?- Was muss man alles wissen und können, um an der Wikipedia mitzuarbeiten?

Florian Straub: Es scheint als habe sich das Wesen der Mitarbeit in der Wikipedia in den letzten Jahren ein wenig gewandelt. Es wird gemunkelt, dass man sich früher weitaus weniger einlesen musste, als das jetzt der Fall ist ( Robert Basic hatte dazu etwas geschrieben). Ich bin vor 3,5 Jahren allerdings auch relativ klassisch in jedes Fettnäpfchen getreten und habe mir alles Schritt für Schritt erklären lassen. Grundsätzlich sollte man beim Einstieg in die Wikipedia lern- und kritikfähig sein.

Oliver Gassner: Kannst du ein paar Beispiele machen welche internen Regeln man leicht missachtet? Was sind die Standard-Fettnäpfchen?

Florian Straub: Der Klassiker aller Fehler: Man gibt einen Begriff ein und stellt fest, dass es keinen Artikel dazu gibt. Das ist ja schlimm. Da schreibt doch glatt mal schnell einen Satz zum Thema und speichert ihn ab. Oder man kopiert einfach einen Text von einer anderen Website und fügt ihn (am besten gleich inklusive Bilder) in die Wikipedia ein.

Oliver Gassner: Man lernt also schnell, dass man es entweder richtig und legal einwandfrei macht oder lieber gar nicht?

Florian Straub: Man sollte es auf jeden Fall. Ob man es tut, hängt wohl vom jeweiligen Individuum hinter dem Bildschirm ab. Aber es gibt ja genügend Wikipedianer, die einen jederzeit gerne unterstützen. Es kommt allerdings auch immer wieder vor, dass Leute trotz aller Warnungen munter weitermachen.

Oliver Gassner: Was gibt es noch an "allgemein verwertbarem Können und Wissen", das dir durch die Arbeit an der Wikipedia so zugeflossen ist? also nicht Artikelinhalte sondern "drumrum"?

Florian Straub: Man kann sehr schön beobachten, wie sich Leute in Konflikten verhalten und daraus einiges für das Arbeitsleben mitnehmen. Ich weiß nun einiges über freie Inhalte und das Urheberrecht, habe einiges über Fotografie gelernt und weiß nun, wie man mit Literatur arbeitet. Das half auch massiv während der Diplomarbeit.

Oliver Gassner: Das heißt du hast sozusagen akademisch davon profitiert, dass du an der Wikipediaarbeit einiges gelernt hast?

Florian Straub: In jedem Fall. Beruflich auch.

Oliver Gassner: Wie genau?

Florian Straub: Wir begannen im Büro mit Wikis zu arbeiten. Ich hatte zwar zuvor noch nie eine Installation von MediaWiki aufgesetzt, wusste aber durch die Mitarbeit an Wikipedia, was die Software alles kann und konnte dieses Wissen umsetzen. Krönung war die Einführung von WiWiB (Wikibasiertes Wissensmanagement im Bürgerservice) einem landesweiten Wiki für die Bürgerämter Baden-Württembergs.

Oliver Gassner: Die Wikipedia könnte also helfen, dass mehr Unternehmen statt starrer Intranets flexible Wikis für das Wissensmanagement einsetzen?

Florian Straub: Tut sie das nicht schon?

Oliver Gassner: Also ich arbeite gerade in einem „konventionellen“ Wissensprojekt bei einer größeren Firma, aber ein Wiki hab ich da noch nicht gesichtet. - Worauf führst du es eigentlich zurück, dass die Deutschen (oder die deutschsprachigen Länder) die zweitgrößte Wikipedia pflegen? Gute Bildung, Hang zum Korinthendingsen?

Florian Straub: Das sind auf jeden Fall zwei Gründe. Ich vermute es liegt einfach auch an der Population des Internets. Es treiben sich einfach sehr viele Deutschsprachige im Netz herum. Außerdem war es ja auch ein Deutscher, der die erste Version von MediaWiki geschrieben hat. Daneben war die deutschsprachige auch eine der ersten vier Wikipedias und hatte viel Zeit zum Wachsen.

Oliver Gassner: Und darf man sich den Wikipedianer als verstaubten Typen vorstellen, der aus Büchern Infos zusammenträgt und die in die Wikipedia eintippert und dabei zwar schlau und wissenskompetent wird aber sozial vereinsamt?

Florian Straub: Sicher gibt es solcher Wikipedianer. Ich war früher wohl auch einer davon. Seit ich allerdings den Wikipedia-Stammtisch in Freiburg besuche, hat sich das geändert.

Oliver Gassner: Wie läuft so einen Stammtisch ab?

Florian Straub: Sehr interessant. Man kommt dort hin und ist sofort im Gespräch mit anderen Wikipedianern. Man erzählt von der Arbeit in Wikipedia und unterhält sich über den neusten Klatsch und Tratsch. Was auch toll ist: Endlich kann man mal sein Wissen auspacken und niemand schaut einen doof an. Mittlerweile schaue ich dann auch immer, wenn ich beruflich unterwegs bin, ob sich das nicht mit einem Stammtischbesuch woanders verbinden lässt und war neulich auf dem Süddeutschland-Stammtisch in Dinkelsbühl.

Oliver Gassner: Gibt es noch mehr soziale Aspekte des Wikipedia-Lebens?

Florian Straub: Daneben gibt es noch die AU: Auskunft, wo man Wissensfragen zu so gut wie jedem Thema stellen kann. Da die Wikipedianer aus verschiedensten Bereichen kommen, ist es sehr interessant, auf was für lustige, spannende und hilfreiche Antworten man dort kommt. Wir haben auch schon einige Wikipedia-Partnerschaften und soweit ich mich entsinne eine Ehe.

Florian Straub: Die globale und offiziellere Variante der Stammtisch ist die Wikimania, eine Konferenz zu Wikipedia und den anderen Projekten der Wikimedia Stiftung.

Oliver Gassner: Wie läuft das ab?

Florian Straub: Die potentiellen Veranstalter unterbreiten Vorschläge, wo die Wikimania eines Jahres stattfinden soll (ähnlich den Bewerbungen für Weltmeisterschaften oder Olympia) und die Community entscheidet. Die diesjährige Wikimania fand im Juli in Alexandria statt. Daneben gibt es noch die Mitgliederversammlung des deutschen Vereins, sowie vereinzelte Workshops beispielsweise für Fotografie.

Oliver Gassner: Danke für das Gespräch ;)