Deadline für Indymedia-Deutschland

Die Probleme der aktivistischen Internetplattform sind auch die Krise einer Bewegung, die unter der Parole "Reclaim the Media" angetreten war

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Vor einigen Tagen wurde ein von Umweltaktivisten besetztes Waldstück im Hambacher Forst im äußersten Westen der Republik von der Polizei geräumt. Solche Ereignisse sind immer Höhepunkt des Video- und Medienaktivismus. Zahlreiche Videos über die Besetzung und die Räumung kursieren im Netz. Die Ereignisse können dort fast in Echtzeit beobachtet und mögliche Rechtsverletzungen der Polizei dokumentiert werden. Eigentlich müssten bei solchen Ereignissen die Nutzerzahlen von Indymedia Deutschland in die Höhe schnellen. Schließlich wurde die Internetplattform von globalisierungskritischen Aktivisten genau zu dem Zweck gegründet, Informationen direkt und ungefiltert im Netz zu verbreiten.

SOS-Indymedia

Doch seit einigen Wochen sendet die Indymedia-Deutschland SOS-Signale aus. Der geschrumpfte Kreis der Aktivisten, der sich für die Plattform verantwortlich erklär, hatte schon im Sommer auf einem Treffen in Hamburg beschlossen, Indymedia noch eine Frist bis zum Frühjahr 2013 zu geben. "Bis dahin sollen wieder mehr Aktive gefunden und auf ein neues Content-Management-System umgestellt werden … Werden diese beiden Ziele nicht erreicht, so wird de.indymedia.org deaktiviert und archiviert", heißt es in einer auf Indymedia dokumentierten Erklärung.

Bisher ist noch völlig offen, ob diese Ziele erreicht werden. Gelingt es nicht, könnte es auf der Startseite von Indymedia Deutschland so aussehen, wie aktuell auf den österreichischen Zweig. "Seit Ende Juni 2012 ist at.indymedia.org abgeschaltet", liest man dort. Damit wird auch deutlich, dass es um eine Krise geht, die nicht nur den deutschen Zweig von Indymedia, sondern das Projekt insgesamt betrifft.

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Den virtuellen Grabstein gibt es schon. Bild: de.indymedia.org

Die Gründe werden in der Erklärung zum Hamburger Treffen auch von allen Seiten auch genannt. So scheint das Projekt das typische Schicksal von Medienpionieren zu ereilen, die von der technischen Entwicklung überholt werden. Als Indymedia 1999 gegründet wurde, brauchte man noch ein gewisses Insiderwissen, um Videos ins Netz zu stellen. Heute ist es fast für alle, die es wollen, möglich. Ähnlich wurde auch das Berliner Medienprojekt ak-kraak von der technischen Entwicklung überholt. Die Aktivisten im Umfeld der Berliner Hausbesetzerbewegung produzierten Anfang der 90er Jahre Videos von der Bewegung für die Bewegung. Damals musste sich jeder rechtfertigen, der bei solchen Aktionen mit einer Kamera hantierte. Heute gibt es auf Demonstrationen oft mehr Kameraleute als Aktivisten und oft ist auch nicht ganz klar, wo die Grenze verläuft.

Doch die Frage der technischen Entwicklung ist nur die eine Seite des Problems, mit dem Projekte wie Indymedia zu kämpfen haben. Auch politische Aktivisten sehen in Indymedia weniger einen eigenen Raum, den sie mit eigenen Inhalten füllen können, sondern eine Dienstleistung oder ein Zweitverwertungsmedium. "Häufig werden Presseerklärungen über Aktionen bis ins kleinste Detail für die Mainstream-Median entworfen, damit sich niemand auf den Schlips getreten fühlt. Für Indymedia, für das eigentlich frei von der Leber formuliert werden könnte, bleibt dann nur noch eine Kopie der Presseerklärung. Viele Initiativen verwechseln Indymedia immer noch mit einem Flugblattständer", heißt es in der Erklärung der Indymedia-Aktivisten. Zudem gibt es böse Kommentare, wenn ein Text nicht schnell genug auf der Startseite erscheint, oder wenn zu einem Thema gar kein Text auf der Seite zu finden ist .Hier wird die Dienstleistungsfunktion besonders deutlich. Als wäre Indymedia ein Zeitungsprojekt, wird gefragt, wann endlich etwas zu diesem oder jenen Thema kommt. Dabei könnten die Kritiker einfach selber einen Text, einen Mitschnitt oder ein Bild dazu online stellen. Ähnliche Probleme hatten die österreichischen Aktivisten in ihrem Abschiedsstatement benannt:

"Die fehlenden Ressourcen führen uns zum Problem der Betreuung: wir können nicht mehr. Es existiert ein grundsätzliches Problem mit Infrastrukturarbeit, das wir auch in anderen Zusammenhängen beobachten konnten: sobald Infrastruktur existiert, wird diese genutzt, damit aber auch abgenutzt. Was an reproduktiver Arbeit dahintersteckt, wie viel Arbeit es bedeutet, Räume offline sowie online zu betreuen, wird selten gesehen, angesprochen oder sichtbar gemacht. Auch die Arbeitsverteilung selbst wird nicht diskutiert oder hinterfragt, obwohl allzu oft gerade damit strukturelle Diskriminierung manifestiert wird. Das Bestehen von selbstverwalteten und offenen Räumen scheint wie eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen zu werden. Dahinter steht aber viel zu oft die Selbstausbeutung von Aktivist_innen, die zum Beispiel einer Lohnarbeit nachgehen um das Einkommen in die Instandhaltung der Räume zu buttern und dann fünf Tage die Woche damit beschäftigt sind Plena und Treffen zu besuchen oder Veranstaltungen vorzubereiten. Doch nicht selten reichen zeitliche und personelle Ressourcen in diesen Räumen für nicht mehr als die Aufrechterhaltung eines Minimalbetriebes."

Reclaim the Media oder Krise der Selbstverwaltung

So zeigt sich an den Problemen, die das Projekt Indymedia zurzeit hat, auch die Krise von selbstverwalteten Medienprojekten insgesamt. Denn es geht nicht in erster Linie um staatliche Repression, wie sie noch auf dem Höhepunkt der globalisierungskritischen Bewegung durchaus eine Rolle spielte und dem Projekt viel Solidarität eintrug. Heute hat das Projekt mit einem Dienstleistungsdenken vieler Aktivisten zu kämpfen, die eben die vielbeschworenen eigenen Räume gar nicht nutzen wollen.

In den Anfangsjahren von Indymedia war häufig die Parole Reclaim the Media zu hören. Mittlerweile haben finanzkräftige Anbieter wie Twitter und Facebook diesen Spruch gekapert. Ihre Seiten funktionieren natürlich störungsfreier und erreichen viel mehr Menschen als Indymedia. Allerdings akzeptieren die Nutzer dann deren Bedingungen und verzichten auf eine Internetplattform ohne Chefs und Kommerz. So steckt hinter der Frage, ob Indymedia Deutschland noch eine Zukunft hat, mehr als das An- und Abschalten einer Plattform. Hat der Medienaktivismus der späten 90er Jahre nur Twitter und Co. den Weg bereitet oder gibt es noch ein Milieu, das die Ansprüche einer selbstorganisierten Plattform ernst nimmt?