Die "Spitzenkandidatur" - ein politisches Phantom

Auch die Linkspartei lässt sich mediatisieren, Gysi ist dran - Ein Kommentar

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In der Partei Die Linke sei "eine Entscheidung gefallen", meldete Spiegel Online, Gregor Gysi werde für die kommende Bundestagswahl "Solospitzenkandidat". Bis auf die FDP haben die anderen im Reichstag sitzenden Parteien diese massenmedial gern begleitete Prozedur schon hinter sich, und bei der CDU/CSU ist sie überflüssig, für Angela Merkel gilt das TINA-Prinzip, personeller Begleitung bedarf sie nicht, sie ist einsame Spitze.

Peer Steinbrück wurde zum SPD-Spitzenkandidaten unter dem Druck der Presse, eigentlich wollte die Parteiführung das Troika-Spitzenspiel noch eine Weile fortsetzen. Ausgerufen wurde er ohne Beteiligung der Parteimitglieder, ein Parteitag durfte die schon getroffene Entscheidung absegnen. Was hätte er anderes tun können? Und nun haben die Sozialdemokraten Steinbrück zu ertragen, bis die Wahl vorüber ist. Wenn jemand erst zur Spitze gemacht ist, fällt es schwer, ihn wieder dort herunterzuholen. Eleganter verfuhren die Grünen: Jürgen Trittin stand als Spitzenmann fest, er ist unangefochten, aber ganz basisdemokratisch wurde ihm per Urwahl eine weibliche Begleitperson beigegeben.

Aus der Spitzenkandidatur von Gysi, einem journalistischen Konstrukt, lässt sich jetzt erst einmal ein politisches Schaustück für einige Wochen machen, als Thema am Rande, denn so bedeutend ist diese Partei ja nicht. Wird der linke Hauptkandidat ergänzt durch eine Mitkandidatin Wagenknecht? Haben auch Bartsch und Kipping Ambitionen? Da werden Gerüchte aus dem jeweiligen "Umfeld" publiziert, die Parteivorsitzenden geben ihre Dementis ab, Provinzpolitiker sehen ihre Chance, zitiert zu werden - alles wie im Parteiengeschäft üblich, die Partei Die Linke ist in der Tat in den Gewohnheiten des etablierten Parlamentarismus angekommen.

Auf die Idee, das Unterhaltungsinteresse der Medien ironisch zu kontern, kommt sie nicht, vielleicht meinen ihre Wahlstrategen auch, es sei besser, so an öffentlicher Aufmerksamkeit teilzuhaben als gar nicht. Es fehlt an Gespür dafür, dass solcherart personalisierende Diskurse von gesellschaftspolitischen Inhalten des angelaufenen Wahlkampfes ablenken, Entpolitisierung bewirken, auf die "Postdemokratie" hinführen.

Längst ist aus dem Blick geraten, dass es im Verfassungssystem der Bundesrepublik bei den Wahlen zum Bundestag gar keine "Spitzenkandidaturen" gibt, jedenfalls keine bundesweiten. Wahlrechtlichen Boden haben nur die ersten Plätze auf den Landeslisten der Parteien. Praktische Bedeutung können Voransagen von Parteien haben, dass sie nach der Wahl eine bestimmte Person in die Kandidatur für das Amt der Kanzlerin oder des Kanzlers schicken werden; ob die parlamentarische und koalitionäre Lage das dann erlaubt, ist ungewiss. Und für die kleineren Parteien wären derartige Ankündigungen unsinnig.

Spitzenkandidaturen bei der Bundestagswahl, so das Fazit, haben für den Prozess der vielberufenen Politikgestaltung Phantomcharakter. Ihren Gebrauchswert besitzen sie als ziemlich abgegriffenes Werbematerial der Parteien und als Stoff für die Journalistik, freilich auch dort immer mehr Gähnen beim Publikum auslösend. Warum teilt nicht Gysi, der sich doch auf Spaß versteht, der Presse mit, Spitze sei er sowieso, aber eine Spitzenkandidatur benötige seine Partei nicht, denn die Anwärterschaft fürs Kanzleramt wolle sie gern Steinbrück überlassen?