Ost-West-Populismus im NRW-Wahlkampf

Immer zu Wahlkampfzeiten kommt ein alter Dauerbrenner in die politische Debatte: die Zukunft des Solidarpakts Ost

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Jetzt haben vier Oberbürgermeister aus dem Ruhrgebiet das Ende des Solidarpakts Ost gefordert. Gelsenkirchens Stadtoberhaupt Frank Baranowski will sich für eine Bundesratsinitiative gegen den Solidaritätsbeitrag einsetzen. Mittlerweile hat die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Kraft die Forderungen mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Solidarpakt vertraglich festgeschrieben sei und nicht einfach aufgekündigt werden könne. Damit vermied es die Politikerin allerdings, sich inhaltlich zu positionieren.

Dafür trumpfen ihre Parteifreunde aus den Oberbürgermeisterämtern um so mehr mit starken Sprüchen auf. So sprach der Dortmunder Bürgermeister Ullrich Sierau in der Süddeutschen Zeitung von einem "perversen System, das keinerlei inhaltliche Rechtfertigung hat". Es sei nicht mehr zu vermitteln, dass die armen Städte des Ruhrgebietes sich hoch verschulden müssten, um ihren Anteil am Solidarpakt aufzubringen. Der Osten sei mittlerweile so gut aufgestellt, dass die dort doch gar nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld.

"Während in seiner Stadt Einrichtungen schließen müssten, sanierten die Kommunen im Osten ihre Etats", schließt sich Essens SPD-Oberbürgermeister Reinhard Paß dem Lamento an.

Droht jetzt die Solidaritätskeule?

Sein Gelsenkirchener Parteifreund Frank Baranowski hat gar schon die Solidaritätskeule entdeckt, mit der Kritiker des Solidarpakts angeblich bedroht und als Feinde der deutschen Einheit dargestellt würden.

Bisher waren die Reaktionen auf den Ruhrgebietsvorstoß allerdings moderat. Während der SPD-Politiker Wolfgang Thierse zusätzlich zum Solidarpakt Ost noch einen Ruhr-Solidaritätsbeitrag auflegen will, stellte sich der einflussreiche Bund der Steuerzahler hinter die Forderungen der Lega-West. So könnte man die westdeutschen Politiker nach dem Vorbild der italienischen Lega Nord nennen, die in regelmäßigen Abständen und über Parteigrenzen hinweg immer mal wieder, meistens vor wichtigen Wahlen, den Solidarpakt Ost aufkündigen wollen. 2008 ist der CSU-Vorsitzende Seehofer mit ähnlichen Forderungen hervorgetreten. Vor vier Jahren mischten sich noch Vorwürfe in die Debatte, die Ostdeutschen wären undankbar, wenn sie trotz des Solidarpakts noch die Linke stark machen.

Die Ähnlichkeiten dieser Debatte mit den Ressentiments der Lega Nord gegen die italienische Bevölkerung südlich von Rom sind ebenso wenig zufällig, wie die Parallelen zur Diskussion über die "Pleitegriechen, die in den letzten Monaten immer wieder geführt wurde. Bei diesen Debatten sollen Schuldige außerhalb des eigenen Verantwortungsbereich für die offenkundige soziale Misere herhalten. Dass es einen Kultur-und Sozialkahlschlag in vielen Städten nicht nur in NRW gibt, ist auch eine Folge der Schuldenbremse - und die wiederum resultiert aus einer Finanzklemme, welche die Politik mit ihrer Niedrigsteuerpolitik zu verantworten hat.

Was bei Befürwortern wie Kritikern des Solidarpakts Ost übersehen wird, ist die offensichtliche Tatsache, dass sich ausbreitende Alltagsarmut und gut restaurierte Innenstädte gut kombinieren lassen. Dafür ist ein Niedriglohnsektor verantwortlich, der nach 1989 im Osten Deutschland eingeführt wurde und sich längst auch im Westen etabliert hat. Deshalb müssen die dort lebenden Menschen genauso wenig vom Solidarpakt Ost profitieren wie die griechische Bevölkerung von den Rettungspaketen der EU-Troika.