Am Anfang war der Befehl

Vor gut einem Monat feierte der italienische Philosoph Giorgio Agamben seinen siebzigsten Geburtstag, just an dem Tag, an dem auch Immanuel Kant zur Welt kam.

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Vor gut einem Monat feierte der italienische Philosoph Giorgio Agamben seinen siebzigsten Geburtstag, just an dem Tag, an dem auch Immanuel Kant zur Welt kam. Lange hat es gedauert, bis der "Meisterdenker" auch hierzulande Anerkennung gefunden hat und zu einer gewissen Prominenz gelangt ist.

Es bedurfte des elften Septembers und der Fürsprache einiger gewichtiger deutscher Bewunderer, bis der Suhrkamp Verlag, der seine wichtigsten Bücher und Schriften im deutschsprachigen Raum verlegt, sich endlich dazu durchrang, seinen "Homo sacer", sieben Jahre nach seinem Erscheinen 2002 auf den Markt zu bringen.

"Die Anarchie ist wesentlich interessanter als die Demokratie."

(Giorgio Agamben)

Intellektuell abschätzig

Davor galt Giorgio Agamben in bestimmten akademischen Kreisen häufig auch als Dunkelmann. Seine große Vorliebe für antike Texte und die christlich-abendländische Theologie, sowie die geistige Nähe zu Carl Schmitt, Martin Heidegger und Walter Benjamin machten ihn für manchen Zeitgenossen zu einem irrlichternden, mitunter obskuren Denker, dem nicht so recht über den Weg zu trauen ist ( Das nackte Leben).

Zumal sein zentrales Thema vom "permanenten Ausnahmezustand" und "nacktem Leben", dem sowohl "der Mensch" als auch "freiheitliche Gesellschaften" unterliegen und die im "Lagerleben" ihre extremste Fortsetzung, Vollendung oder gar messianische Erlösung erfährt, nicht gerade schmeichelhaft für die freiheitliche Demokratie und das westliche Denken ausfällt ( Foltern für die Freiheit). Ein geheimes Einverständnis zwischen Demokratie und Totalitarismus, das konnte und wollte sich so recht niemand vorstellen.

In der "Carl Friedrich von Siemens Stiftung", die in einem Nebengebäude des Nymphenburger Schlosses beheimatet ist, gewährte er vor gut einer Woche einem zahlreich erschienenen Publikum, unter das sich auch Jürgen Habermas gemischt hatte, einen ersten Einblick in seine neuesten Studien, die er als noch nicht abgeschlossen bezeichnete.

Zwei Ontologien

Forschungen zum Gehorsam seien seit Michel Foucaults Schriften nicht mehr unüblich in den Geistes- und Kulturwissenschaften, man habe aber den Diskurs über "Befehle" und "Gebote" sträflich vernachlässigt. Eine Frage wie: "Warum gehorchen Menschen?" könne mithin nicht unabhängig von der Frage gestellt werden: "Warum Menschen befehlen?"

Um über die Natur und Struktur des "Befehls" erste Aufschlüsse zu bekommen, sei zuallererst eine Sprachanalyse nötig. Diese zeige, dass sich die abendländische Logik im Grunde bislang nur für die Aussageform interessiert habe, nie aber für die dahinter verborgene Vorschrift. Befehle zeigten laut Agamben keinerlei Bezug zur Grammatik. Der Grundform eines Verbs sehe man seine verkappte "Befehlsform" nicht an. "Gehen" könne zwar als Form der Beobachtung oder Beschreibung betrachtet und aufgefasst werden, aber eben auch als Aufforderung oder Anweisung, sich doch endlich in Bewegung zu setzen.

Stimme und Sprache

Überraschenderweise unterschied Agamben nicht explizit zwischen Sprache und Stimme. Für die Genese der abendländischen Kultur ist diese Differenz aber eine wichtige mediale Umschlagstation. Jacques Derrida und der Dekonstruktivismus haben sowohl darauf, als auch auf die gravierenden Konsequenzen für das Denken und die Tradition aufmerksam gemacht, die die Ablösung des Sounds zugunsten des Zeichens gemacht hat. Nach wie vor macht es einen Unterschied, ob und wie der Infinitiv tonal gebraucht wird. Nicht zufällig hat die Linguistik dafür das Ausrufezeichen erfunden, um dadurch deutlich zu machen, wie etwa das Verb "gehen" aufzufassen und zu verstehen ist.

Das schien den Philosophen aber nicht sonderlich zu stören. Ihm kam es vor allem auf das Double Bind an, von dem die westlich-abendländische Kultur bestimmt wird: Einerseits die Ontologie (Seinslehre) der Aussage, die etwas im Indikativ behauptet und die Wissenschaft und Philosophie regiert; andererseits die Ontologie der Vorschrift, des Gebots und Befehls, die sich eher subtil äußert und die wir vor allem im Recht, aber auch in der Religion, der Magie oder in der Mystik finden.

Zufügungen ausgeblendet

So war es nicht weiter verwunderlich, dass Agamben den historischen Anfang bei der "Schöpfungsgeschichte" suchte. Am Anfang war neben dem Wort eben auch und vor allem der Befehl. Gott, der das ins Werk setzte, gab dem Nichts das Kommando, fürderhin zu sein. Nach seinem: "Es werde ..." schied sich das Licht von der Dunkelheit, das Wasser vom Land, der Himmel von der Erde usw.

Auf die diversen Übersetzungen, Deutungen und Umdeutungen, die dieser Bibeltext letztlich über die Jahrtausende erfahren hat, bis er endlich zum Fundament der christlichen Überlieferung wurde, ging Agamben nicht näher ein. Sie hätte vielleicht gezeigt, dass Gott mittlerweile das Kommandieren eingestellt und dank der postmittelalterlichen Theologie und der Theorie vom liebenden Gott, auf die Dialogform umgestellt hat.

Aber diese Abänderungen und Hinzufügungen wollte der italienische Philosoph, der einst in Venedig lehrte, wenig wissen. Er berief sich lieber auf die Griechen, insbesondere auf Aristoteles, um das westliche Denken seiner prinzipiellen Bipolarität aus manifesten Aussagen und latenten Geboten und Befehlen zu überführen.

Yes, we can

Wie perfekt auch gegenwärtig diese "zweipolige Maschine" funktioniert, insbesondere außerhalb der christlichen Religion, findet sich vor allem im demokratischen Diskurs. Auch da werden längst keine Kommandos mehr erteilt. Sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft oder in der Kultur werden eher Wünsche geäußert, Ratschläge gegeben oder Empfehlungen ausgesprochen und weitergereicht. Die verdeckte und dadurch verschleierte Anweisung oder Anordnung erscheint darin zwar nur in abgeschwächter, verkleideter oder aufgehübschter Form, wirkt darum aber nicht weniger zwingend.

In der Werbung etwa wird uns dieses oder jenes Produkt "nahegelegt"; bei Facebook gibt es das "Daumen hoch" Symbol; bei Amazon wiederum erfährt der User sofort, was andere Kunden auch gekauft haben; und bei Hotel- oder Reisebuchungen kann der Konsument anhand von Bewertungen die Qualität des Angebots prüfen.

In allen diesen scheinbar "enthierarchisierten" Strukturen, in denen nicht mehr der Sender, sondern der Kunde und Empfänger die Entscheidung trifft, wird das "Wollen" mit dem "Können" verbunden und/oder mitunter sogar ersetzt. "Man muss wollen können", wie Agamben sich etwas geschwollen ausdrückte.

Für den Gläubigen wiederum wird das sicht- und spürbar, wenn er beispielsweise im Gottesdienst jedes Mal auf Geheiß des Priesters und Mittlers zwischen den Welten bekennt: "Dein Wille geschehe." Erst im messianischen Kontext hört das dann auf. Laut Paulus endet die Ära des Befehls, nicht aber die des Gesetztes, wenn der Messias kommt, um zu richten die Guten und die Bösen.

Alles spielt sich im Geheimen ab

Noch augenfälliger wird diese Verschleierung von Macht, Sender und Befehl, wenn wir uns den Oberflächenflächeneffekten der Bildschirme zuwenden, die die Tiefenstruktur computergenerierter Datenverarbeitung verdecken. Hier wird die Beobachterebene des Users strikt von der Kommandoebene der Maschine getrennt. Das Innenleben der Maschine besteht nicht bloß aus Daten und Adressen, sondern auch aus Befehlen.

Das C³ , bestehend aus command, control & communication, das wir sowohl in militärischen Zusammenhängen als auch in jeder Rechenmaschine, in jeder Programmzeile, aber auch in jedem App wiederfinden, verschwindet auf dem Desktop völlig. Dort sind die Befehlsflüsse der allgemeinen Kommunizierbarkeit entzogen. Auf dem Screen dominieren die vielen bunten Icons. Erst wenn der User sie anklickt, tut sich vor ihm die weite Welt auf.

Vergangenheit als Gegenwart

Bemerkenswert an Agambens Vortrag, den er im Rahmen der groß angelegten Tagungsreihe, den die Stiftung zum Thema "Politik und Religion" bis in den Sommer hinein abhalten will, waren aber auch seine Äußerungen zu "Europa" und der "Krise", die der Kontinent gerade durchlebt.

Um sie und die Gegenwart zu verstehen, müsse man theologisch-dogmatischen Bestände, auf denen der "europäische Geist" schließlich beruht, aufgreifen, man müsse sie zerlegen und dann auf ihre versteckten Implikationen hin analysieren. Noch in der rosigsten Gegenwart befänden sich dunkle Abgründe, die es aufzudecken gelte. Gerade an der subtil versteckten "Gebots- und Vorschriftstruktur" könne man erkennen, wie latent unbewusst diese weiter wirksam sind.

Gegenwart vom Ende her denken

Beide, das europäische Denken als auch die europäische Identität, seien nun mal nichts Abgeschlossenes oder einmalig Beständiges, sondern bilden zusammen ein offenes Gewebe, das einer ständigen Änderung unterworfen ist. Das archäologische Verfahren, mithin das Schürfen nach und Aufspüren des Anfänglichen und Ursprünglichen, biete seiner Ansicht nach den einzigen und besten Weg, um Zugang zur Gegenwart zu gewinnen.

Nur wenn wir diesen Weg wählen, einen Bezug zur Tradition herstellen und uns dabei bewusst werden, wer wir sind und woher wir kommen, können wir uns in der posthistorischen Ära, die laut Kojève zwischen dem "American Way of Life" oder dem "japanischen Snobismus" hin und her pendelt, nicht nur "als Europäer" verstehen, sondern uns auch im Wettstreit der Systeme, Verbünde und Denkmodelle behaupten.

Nach dem Vortrag verließ Habermas die Veranstaltung. Er hatte offensichtlich genug gehört. An der Diskussion wollte er sich nicht beteiligen. Agambens Wille geschah. Wenn das kein Wink, kein Gebot und Befehl war?