Aufregung statt Aufklärung

Medien übernahmen fraglos Informationen des Innenministers

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"Das Bundeskriminalamt geht mit Stand von Mitte September von zuletzt 110 mit offenen Haftbefehlen untergetauchten Rechtsextremisten aus." Diese Aussage, die Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) vor einer Woche in einem Interview mit Welt am Sonntag machte, nahmen Medien im gesamten Bundesgebiet auf und erweckten durch eine aufgeregte Berichterstattung den Eindruck, irgendwo da draußen im Land könnte sich breit angelegt eine Art zweiter Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) formieren.

Allerdings: Von den 110 angeblich untergetauchten Personen mit rechtsextremistischen Hintergründen sind 18 alleine wegen entsprechender Straftaten, die einen rechtsextremistischen Bezug haben, untergetaucht. In den anderen 92 Fällen geht es um andere Delikte, die nichts mit politisch motivierten Straftaten zu tun haben. Nahezu eine ganze Medienlandschaft hat es versäumt, die von dem Minister in den Raum gestellte Zahl zu hinterfragen. Ausgerechnet ein Politiker musste den Medien Schützenhilfe leisten, um zu zeigen, wie man Informationen durch zielführende Fragen perspektiviert.

Der Vorfall um die große Zahl angeblich im Untergrund untergetauchter Neonazis kann als Musterbeispiel in jedem journalistischen Seminar dienen, in dem man sich mit der Frage auseinandersetzt, wie Journalisten mit Informationen, die von Behörden und politischen Funktionsträgern verbreitet werden, umgehen sollten.

In einem Interview von Welt am Sonntag mit Innenminister Hans-Peter Friedrich, das von gleich drei Journalisten geführt wurde, stellte das Blatt die Frage: "Wie viele gefährliche Rechtsextremisten sind derzeit untergetaucht?"

Der Innenminister antwortete darauf:

"Das Bundeskriminalamt geht mit Stand von Mitte September von zuletzt 110 mit offenen Haftbefehlen untergetauchten Rechtsextremisten aus. Die Zahl kann sich aber mittlerweile durch erfolgte Verhaftungen oder neu hinzugekommene Haftbefehle verändert haben. Im Übrigen meldet uns die Justiz aber nicht, was mit Angeklagten und Verdächtigen nach den Prozessen passiert. Auch hier müssen wir die Kommunikation verbessern."

Die Informationen, die der Innenminister verbreitet, klingen in der Tat besorgniserregend. Doch nicht alles, was besorgniserregend klingt, muss besorgniserregend sein. Um die Angabe "110 untergetauchte Rechtsextremisten" einordnen zu können, hätte es sich empfohlen, Fragen zu stellen wie etwa:

"Welche sicherheitsrelevanten Erkenntnisse gibt es über sie? Welche Taten werden ihnen zur Last gelegt? Seit wann sind sie untergetaucht, und was wurde unternommen, um sie zu ergreifen?"

Doch diese Fragen stammen nicht etwa von einem Journalisten, der das Thema für seine Leser sinnvoll aufzuarbeiten versucht, sondern von CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, der offensichtlich stellvertretend für Journalisten mitdenkt.

Fixiert auf das Gefahrenpotential

Die Medienlandschaft war jedoch eher darauf fixiert, die Nachricht vom Gefahrenpotential, das sich aus 110 im Untergrund lebenden Rechtsextremisten ergeben könnte, zu verbreiten, als sich über Fragen den Kopf zu zerbrechen, die möglicherweise die quadratisch-praktische Nachricht hätte "entzaubern" können. Bei Spiegel-Online heißt es: "Sie entziehen sich der Festnahme, leben unentdeckt im Untergrund: Laut Innenminister Friedrich sind in Deutschland mindestens 110 Neonazis abgetaucht. Er erwarte aber derzeit keine Nachahmer der rechtsradikalen Terrorzelle NSU, so der CSU-Politiker."

Die Frankfurter Rundschau textet in ihrer Schlagzeile: "110 Rechtsextremisten leben im Untergrund" und schreibt dann: "Grünen-Chef Cem Özdemir bezeichnete es daraufhin als ungeheuerlich, dass ein Jahr nach der Aufdeckung des rechtsextremen Terrors "über 100 Neonazis im Untergrund leben und dort unbehelligt ähnliche Gewalttaten planen können". Dies zeige, wie wenig die Sicherheitsbehörden dazugelernt hätten. Die Financial Times Deutschland stellt in ihrem rechtsextremismus-ueber-100-neonazis-leben-im-untergrund/70107091.html: Lead fest: "Laut Innenminister Friedrich sind in Deutschland mehr als 100 mit Haftbefehl gesuchte Rechtsextremisten untergetaucht. Deshalb brauche die Bundesrepublik einen starken Verfassungsschutz."

Die Welt versteht es, die ohnehin schwierige Debatte durch eine Priese Dramatik zu verstärken. Das Blatt findet praktischerweise einen SPD-Politiker, der schön griffig von "tickenden Zeitbomben" spricht: "Mehr als 100 Neonazis im Untergrund Viele Rechtsextremisten sind abgetaucht und gewaltbereit. Die Politik warnt vor 'tickenden Zeitbomben'."

Die Beispiele ließen sich problemlos fortführen. Der Vorgang zeigt deutlich, dass grundlegende journalistische Raster, die zur Aus- und Bewertung von Informationen dienen, offensichtlich von vielen Journalisten nicht veranschlagt werden, solange die gelieferten Informationen ohne Irritationen "Anschlussfähig" mit ihren Wahrnehmungs- und Denkschemata sind.

Die Information: "110 Rechtsextremisten leben im Untergrund" passt scheinbar problemlos in den Wirklichkeitshorizont der Redaktionen, eine dringend notwendige Hinterfragung und Einordnung der Daten bleibt aus, da der Information eine hohe Glaubwürdigkeit zugeschrieben wird. Dabei sollte im Umkehrschluss nicht das Problem von rechten Gewalttätern verharmlost werden, aber eine durchdachtere Auseinandersetzung der Medien mit dem Thema kann erwartet werden. Insbesondere auch im Hinblick auf die undurchsichtigen Verhältnisse rund um den Fall NSU wäre eine sorgfältigere journalistische Arbeit, was das Thema Rechtsextremismus angeht, angebracht.

Trotz der immer wieder auftauchenden Defizite, was die Informationsverarbeitung innerhalb der sogenannten Qualitätsmedien angeht, kann davon ausgegangen werden, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen inneren Problemen nicht erfolgen wird. Im Gegenteil: Spiegel-Online schreibt bezeichnender Weise:

"Peinliche Panne für CSU-Innenminister Friedrich: In einem Interview hatte er vor 110 untergetauchten Rechtsradikalen gewarnt, die per Haftbefehl gesucht würden. Nun stellt sein Staatssekretär klar: In 92 Fällen geht es um völlig unpolitische Delikte wie Fahrerflucht oder nicht bezahlten Kindesunterhalt... Auch SPIEGEL ONLINE hatte über die angeblich 110 untergetauchten Rechtsextremisten berichtet."

Die Schuld an dem Informationsdesaster liegt demnach alleine bei: dem Innenminister.