Ach, Demokratie

Die Finanzmärkte verramschen die europäischen Ideen und die moralischen Übereinkünfte, stöhnen Teile unserer intellektuellen Elite

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Frank Schirrmacher und Jürgen Habermas, Faz-Herausgeber und Vormann des linken Bildungsbürgertums Seit an Seit - das hat man nicht nur nicht alle Tage, das hat man sich vor Jahresfrist auch so nicht vorstellen können. Noch vor Jahren war es nahezu ausgeschlossen, dass Habermas für die FAZ schreibt.

Nicht dass Schirrmacher ihn nicht schon mal gedrängt hätte. Häufig hatte er den prominentesten deutschen Intellektuellen gebeten, seine Elaborate doch auch mal bei der FAZ abzuliefern. Doch die Meinungsautoritarist blieb stur und prinzipienfest. Lieber gab er sie seinen Freunden bei der Zeit oder bei der FR. Aber tempi passati. Und: Nichts ist mehr, wie es ist.

Wo aber Rettung ist, wächst die Gefahr. Dietmar Kamper

Kurssturz der Demokratie

Die für alle völlig überraschende Ankündigung des vor Wochen noch amtierenden griechischen Ministerpräsidenten Georgos Papandreou, sein Volk über das von Merkel und Sarkozy diktierte Rettungspaket demnächst abstimmen zu lassen, machte es möglich. Auch und vor allem, weil dessen Absicht breites Unverständnis und lähmendes Entsetzen in Berlin, Paris und Brüssel hervorgerufen und zu einem Kurssturz an den Weltbörsen geführt hatte.

Zwar hatte sich die zwischenzeitliche Aufregung rasch wieder gelegt, die Börsen drehten ins Plus und Europas Führer nahmen sich den griechischen Premier gehörig zur Brust. Doch nicht so bei Schirrmacher und seinem neuen "Hausphilosophen". Beide waren über das Verhalten der Euroretter anscheinend so tief erschrocken, dass sie in der Reaktion der EUROkraten auf das Ansinnen des griechischen Konkursverwalters gar den Super-Gau der hiesigen wie der Demokratie an sich entdecken wollten.

Die Demokratie werde "verramscht", stöhnt jetzt der Faz-Herausgeber lauthals vom Frankfurter Schreibtisch aus ( Demokratie ist Ramsch). Was wir derzeit erlebten, sei keine bloße "Episode", sondern der schleichende "Kurssturz des Republikanischen". Am "Machtkampf, der zwischen dem Primat des Politischen und dem Primat des Ökonomischen" ausgefochten werde, sei die "kollektive Psyche" krank geworden. Auf der Couch läge nun die Demokratie, so die niederschmetternde Botschaft des Feuilletonisten an seine Leser.

Kujoniert von den Finanzmärkten

Doch welche "moralischen Übereinkünfte" auf dem Altar der ökonomischen Vernunft geopfert würden, ob es diese überhaupt gebe, oder ob sie nicht doch vielleicht nur, um eine Songzeile der Who aus ihrem legendären Album "Quadrophenia" zu paraphrasieren, "in his head" existierten, darüber gab der Moralist ebenso wenig Auskunft wie über das Wundermittel oder den "Seelendoktor", der die Demokratie von dieser Krankheit heilen könnte.

Auch der ausgewiesene "Zeitdiagnostiker" und "Leidensgenosse" Habermas wusste paar Tage später keine echte Antwort. Rezepte hatte er jedenfalls nicht zu verteilen. Dafür gab er über weitere Krankheitssymptome Auskunft. Darüber hinaus sah auch er die "politische Klasse" von den Imperativen der Finanzmärkte "kujoniert" ( Rettet die Würde der Demokratie), wie er das nannte. Deren Drangsalierung zwänge die Politik zu einer "Abkehr von den europäischen Idealen".

Uneingelöste Versprechen

Immerhin wusste Habermas, was da auf dem Altar der Finanzmärkte verramscht werde, nämlich die "uneingelösten Versprechen der sozialen Gerechtigkeit". Offenbar hatte er da seine Rede an der Berliner Humboldt-Uni im Sinn, wo er unlängst eine "gemeinsame Sozialpolitik" in der EU gefordert hatte, die irgendwann mal, so seine Erwartung, zu einer "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" führen soll.

Ob seine Meinung auch im "neuen Europa" geteilt wird, in den baltischen Staaten, in Polen, der Slowakei oder Tschechien, nach welchem Verteilungsschlüssel die Abschöpfung und Umverteilung der Gewinne erfolgen sollte, nach schwedischen, französischen oder slowakischen Steuersätzen, das ließ Habermas auch dieses Mal offen. Mit solch niederen Fragen der praktischen Politik befasst sich der Philosoph, der sich lieber in der Welt des Kontrafaktischen aufhält, bekanntermaßen nicht. Dies überlässt er lieber den so heftig gescholtenen EUROkraten in Brüssel.

So verwundert es nicht, dass Habermas den Faden, den Schirrmacher gesponnen, liebend gern aufnahm. Zumal er seiner einzigen, seit einem halben Jahrhundert immer wieder variierende Schwarz-Weiß-These damit eine neue Fußnote hinzuzufügen kann, wonach die (be)rechnende, böse Vernunft der Wirtschaft die ach so guten und stets vitalen Kräfte einer kommunikativ verfassten Lebenswelt kolonialisiert. Diesmal sind es "die Systemimperative des verwilderten Finanzkapitalismus", die das "Gemeinwohl" herausfordern und den Regierenden in Berlin, Paris und Brüssel den "postdemokratischen Weg" aufzwingen.

Nicht auf offener Bühne

So überraschend die neudeutsche Einigkeit manchem Beobachter auch vorkommen mag, so merkwürdig ist auch die Tatsache, wie sehr die Wahrnehmung beider doch durch fromme Wünsche verzerrt und getrübt ist.

Gewiss verspürt jeder bei Basta-Demokratien, bei denen Beschlüsse der Regierungschefs als "alternativlos" hingestellt und Bürgern und Parlamenten einfach "aufs Auge gedrückt" werden, kräftiges Unbehagen und Magengrimmen. Doch politische Vernunft und politisches Handeln laufen in den allerseltensten Fällen synchron. Nicht einmal eine gemeinsame Sprache sprechen sie meist.

Ähnliches lässt sich aber auch über andere politische Entscheidungen sagen. Auch Berufungen an Universitäten und Redaktionssitzungen, Intendanten-Telefonschaltungen oder höchstrichterliche Beratungen werden nicht auf offener Bühne geführt und/oder der Zustimmung von Studenten, Lesern, Zuschauern oder Delinquenten anheim gestellt.

Zudem ist das Problem der repräsentativen Demokratie nicht erst seit der Verschuldungskrise gegenwärtig. Auf "postdemokratischen" Fundamenten beruht im Prinzip die ganze EU. Weder hat man das deutsche Volk gefragt, ob es den Euro will, noch hat man es jemals abstimmen lassen, ob es bereit ist, diesen oder jenen Kandidaten zu akzeptieren. Als es etwa darum ging, über Maastricht und eine europäische Verfassung abzustimmen, hat man dies dem deutschen Volk gar mit der Begründung vorenthalten, dass es zu so schwerwiegenden Urteilen gar nicht fähig sei.

Schwerwiegende Vorbehalte

In Frankreich, in den Niederlanden und zuletzt in Irland verliefen die Dinge völlig anders. Sie hielt man nicht für so dumm. Trotzdem müssen sie anscheinend nicht ganz bei Trost gewesen sein, als sie den Entwurf zu einer europäischen Verfassung abgelehnt haben, die Habermas bekanntlich schon seit Jahren fordert ( Kontinent der Vernunft). Vermutlich müssten sich Habermas und seine Freunde erst mal ein maßgeschneidertes Volk "schnitzen", damit Referenden auch so ausfallen, wie sie sich das wünschen.

Freilich gibt es auch ganz ernstzunehmende Gründe und Vorbehalte, warum man das Volk nicht zu Diesem oder Jenem befragt. Gesetzt den Fall, es wäre zu der Befragung gekommen, worüber hätten die Griechen abstimmen sollen? Lassen sich so komplexe Fragen überhaupt in Ja/Nein Stellungnahmen fassen? Und wie steht es mit der Umsetzung und der Effizienz aus? Gibt es angesichts der Geschwindigkeit, mit der global kommuniziert und Waren, Daten und Dienstleistungen mittlerweile um die Welt verschoben werden, überhaupt die Zeit dafür? Ist der demokratische Prozess der diskursiven Willensbildung, der Habermas vorschwebt, dafür überhaupt geeignet?

Bürger und Politiker

Von Wirtschaft jedenfalls scheinen weder Habermas noch Schirrmacher eine Ahnung zu haben. Jedenfalls nicht mehr als Otto Normalverbraucher. Sonst wüssten sie, dass die Krise eine des Schuldners (Staaten) ist und keine des Gläubigers (Banken, Privatleuten). Ross und Reiter zu vertauschen, war immer schon ein beliebtes Spiel des Habermas-Clans.

Weswegen die neulich vom Habermas-Freund Thomas Assheuer ( Nach dem Bankrott ) mit großem Tamtam in der Wochenzeitung Die Zeit losgetretene Frage, wo denn all die Intellektuellen gewesen wären, als Europa zu Bruch ging ( Kalte Liebe), sich durch die Stellungnahmen von Schirrmacher und Habermas auch von selbst beantwortet. Sie moralisieren, heben jammernd oder beschwörend den Zeigefinger oder argumentieren vom Katheder aus.

Eigentlich mag man es nicht mehr wiederholen. Aber die gegenwärtige Krise ist keine der Wirtschaft, nicht einmal des Kapitalismus – auch wenn noch so viele Kommentatoren das in diversen Blättern und medialen Plattformen noch so aufgeregt und lauthals verbreiten. Neben der Politik, die mit ihren freigiebigen Versprechen der letzten Jahrzehnte und ihrem haarsträubenden Krisenmanagements der letzten Monate und Jahre, das Ganze erst auf die Spitze getrieben hat, sind es vor allem auch wir Bürger, die die Misere der Verschuldung mit zu verantworten haben.

Raubbau an der Zukunft

Mit den stetig wachsenden Ansprüchen und Forderungen an Staat, Politik und Parteien haben wir die Verschuldung über alle Maßen befeuert und sie in bislang unbekannte Höhen getrieben. Allein in den letzten neun Jahren ist die Verschuldung Deutschlands trotz der guten mittleren Jahre von knapp 60 Prozent (entspricht den Maastricht-Kriterien) auf über 80 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen. In allen anderen westlichen Ländern sieht es noch viel schlimmer aus.

Um von uns Bürgern gewählt zu werden und an der Macht zu bleiben, haben die Politiker in all den Jahren ständig neue soziale Wohltaten und Steuerkürzungen versprochen, auf Pump versteht sich, und damit finanziellen Raubbau an der Zukunft und der unserer Kinder und Enkel getrieben. Noch zu Zeiten, als alles im Lot schien, wurde ein Wirtschaftsminister, der heute als Vater der Sozialen Marktwirtschaft fast heldenhaft verehrt wird, verhöhnt, als er Kollegen und Bürger zum "Maß-Halten" anhielt.

Lernresistent

Bis auf den heutigen Tag hat die Politik und deren Repräsentanten nichts aus der Schuldenkrise gelernt. Auch die Bundesrepublik Deutschland nicht, die trotz ihrer Schulden von über zwei Billionen Euro merkwürdigerweise immer noch höchste Bonität bei weltweiten Kreditgebern genießt. Statt aber die Rekordeinnahmen des Boomjahres 2010 zur Schuldentilgung zu verwenden, ist davon weder in Berlin, noch in Düsseldorf oder München die Rede. Im Gegenteil!

Sowohl die Regierenden in Berlin als auch die in München (und das gilt erst recht und noch mehr für die Opposition) haben nichts besseres im Sinn, als sich schon wieder darüber Gedanken zu machen, wie sie diese Überschüsse ausgeben und verteilen können. Wollen die einen damit Kinderkrippen oder Autobahnen bauen, wollen die anderen Elterngeld zahlen, die Pflege ausweiten, Steuern senken oder gar einen Bildungs- oder gar Sozialsoli einführen. Unsere Großmütter würden sich verwundert die Augen reiben, wenn sie hörten, dass die häusliche Erziehung der Kleinkinder jetzt vom Staat finanziell gefördert wird.

Dabei müsste doch jedem klar sein, dass all dieser Wohlstand auf Sand gebaut ist. Zum Großteil beruht er auf Zukunftserwartungen und Hoffnungswerten, darauf, dass Kinder und Enkel später in der Lage sein werden, für all den Schlendrian, für all die Tricksereien, Schludrigkeiten und Luftbuchungen, die nicht nur in südlichen Ländern Normalität sind, gerade zu stehen. Welche naiven Ideen von Wachstum muss man eigentlich hegen, wenn man glaubt, dass diese Rechnung auf Pump auf Dauer aufgehen wird, ohne die Notenpresse anzuwerfen?

Brandbeschleuniger

Wie aus einem jüngst von WikiLeaks publizierten Papier der US-Botschaft in Berlin hervorgeht, befeuerten vor allem grobe Fehleinschätzungen der deutschen Regierung zu Beginn der Griechenlandkrise diese erst zusätzlich. Traut man den Ausführungen des US-Botschafters, dann ist die Politik und mit ihr die deutsche Kanzlerin nicht als Brandlöscher, sondern als deren Brandbeschleuniger aufgetreten

Noch vor dem EU-Gipfel 2010 wollte die deutsche Regierung ihren Bürgern das Ausmaß und das absehbare Desaster so lange wie möglich verheimlichen. Offenbar war man der Überzeugung, dass der deutsche Steuerzahler nicht bereit sei, die Zeche für das unverantwortliche Handeln anderer zu zahlen. Eineinhalb Jahre danach zeigt allein die Tatsache, dass die Kanzlerin, obwohl sie das gar nicht kann, erneut Garantien für Spareinlagen auf deutschen Konten gibt, wie kritisch die Regierung das gegenwärtige Stadium der Euro-Krise sieht.

Hinzu kommt, dass die Euro-Rettung, die sich die EUROkraten aufs Revers geschrieben haben, nicht mit Bizzaritäten nicht geizt. So hofft man, dass die von der Politik so heftig gescholtenen Finanzmärkte jenen Haufen von Schrottpapieren, formerly called Staatsanleihen, kaufen. Warum sie das tun sollen, darauf gibt die Politik keine Antwort. Zumal sie die Rechtssicherheit, die mit dem Schließen von Verträgen zwischen Schuldnern und Gläubigern verbunden ist, gerade selbst aufgekündigt hat.

Die Politik setzt das Recht

Damit kommen wir zum eigentlichen Problem. Im Grunde leidet die ganze Debatte, die entbrannt ist, an einem groben Missverständnis, der von Habermas und seinen politisch linken Freunden ständig transportiert wird. In einer liberalen Demokratie geht es nicht vorrangig um soziale Gerechtigkeit, sondern zuvörderst um Rechtsstaatlichkeit.

Am 3. März 2010 Jahr hat der Tübinger Rechtsphilosoph Otfried Höffe in der SZ darauf hingewiesen, dass Wohlstandsmehrung nicht primäres Ziel der liberalen Demokratie sein kann und darf. Wichtiger als eine "materielle Besserstellung" sei vielmehr die "Hebung des Bildungsniveaus". Erstere steigere nur den Konsum, während es gleichzeitig das Gemeinwohl schwäche. Mündige Bürger, die ihre Rechte wahrnehmen, bräuchten nicht viel zum Leben, ihnen genüge ein elementares Auskommen.

Und auf noch einen weiteren Umstand machte der Philosoph in seinem Beitrag "Einigkeit und Recht und Wohlstand" aufmerksam. Absoluten Vorrang haben in der liberalen Demokratie seit den seligen Tagen von Thomas Hobbes, David Hume und John Locke Rechtsstaatlichkeit, mithin Freiheits- und Bürgerrechte. Chancengerechtigkeit oder Soziale Gerechtigkeit ist demgegenüber nachrangig. Den Sozialstaat oder die soziale Demokratie in den Vordergrund gerückt zu haben, ist eine Besonderheit der Bundesrepublik Deutschland. Sie hat eine lange Tradition, die von Bismarck über Ebert und Hitler bis zu Adenauer, Brandt, Honecker und Kohl reicht.

Gerade diese Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit hat aber die Politik mit der Aufweichung der Stabilitätskriterien, dem Aushebeln der No-Bailout-Klausel und dem Brechen von Verträgen gröblichst missachtet. Indem sie auf außergewöhnliche oder "höhere" Umstände aufmerksam macht (der Begriff des "Ausnahmezustandes" käme da in Betracht), die es nötig machten, Recht und Gesetz außer Kraft zu setzen, ist es vor allem sie, die die Krise der liberalen Demokratie zuallererst befördert, weil sie nämlich deren "heiligsten" Grundsätze, nämlich die der Rechtssicherheit mit Füßen treten.

Wenn Rating-Agenturen dies bemängeln und mit ihren Analysen den Finger in die offene Wunde der Schuldner legen; und wenn die Finanzmärkte, und dabei handelt es sich in den allerwenigsten Fällen um Spekulanten, sondern vor allem um Versicherungen, Pensions- und Rentenfonds, die nach sicheren Anlagequellen für das Geld der Bürger suchen, das sie treuhänderisch verwalten, Vertragsbrüche mit Zinsaufschlägen sanktionieren, damit auf die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit pochen, und die Politik auf Pump der letzten Jahrzehnte damit vielleicht zur Umkehr zwingen, ist dies beileibe nicht die schlechteste Nachricht.