Der große und der kleine Tod

Blog aus Cannes: Porno trifft Buddhismus - Gaspar Noés filmischer Drogentrip "Enter the Void"

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Fast ganz am Schluss gibt es dann ein bisschen Porno, etwa ein halbes Dutzend Varianten japanischer Sexspiele und Point-of-view-Kameraeinstellungen von einer europäischen Frau beim Geschlechtsverkehr.

Davor warten allerdings ganz andere Herausforderungen auf den Zuschauer... "Tokio auf Acid" oder "Die Befreiung Tibets durch Meditation" könnte dieser Film auch heißen. Ein tibetanisches Totenbuch spielt in ihm eine wichtige Rolle, und das diesjährige Cannes-Zentralthema der Religion: "All the same: the catholic, the protestant, the jews, the buddhist..." Auch "Antichrist" wäre ein vorstellbarer Titel...

Man mag es kaum glauben, aber es ist wirklich schon sieben Jahre her, dass Gaspar Noé die Filmwelt, nicht nur die von Cannes, nachhaltig erschütterte. "Irréversible" hieß der Skandalfilm des schon zuvor als Skandalregisseurs bekannten und je nach Standpunkt gehypeten oder gefürchteten französischen Regisseurs. In dem Film wurde eine Frau in einem Tunnel unglaublich brutal und ziemlich lang vergewaltigt, und weil es so brutal war, machte es Skandal, und weil die Frau von Monica Bellucci gespielt wurde, waren die Medien hysterisch, und weil alles rückwärts und erlesenen Bildern erzählt wurde, war es Kunst. Allerdings machten es die hysterischen Reaktionen mancher, unter anderem der deutschen Medien, Noé auch leicht, sich zum Opfer von Kunstbanausen zu stilisieren, und weil dann natürlich auch irgendwer - "neue Väter" vielleicht, oder alte Frauenrechtlerinnen - mit der Zensurforderung kam, musste man einen Film auch noch verteidigen, der einem dazu eher wenig Lust machte.

Seitdem hat sich Gaspar Noé ziemlich lang Zeit genommen, um über sein neues Projekt nachzudenken. Vielleicht hat er auch andere Dinge genommen, und nicht so sehr gedacht, sondern gefühlt oder sich vor allem treiben lassen, vom Strom des Seins, vom Sog des Lebens, von der Sexyness nun ein weltweit bekannter Skandalregisseur zu sein.

Sein neuer Film "Enter the Void" hat ein wirklich schönes Presseheft. Neonfarben auf schwarzem Grund, ein paar schöne Fotos von einem Paar, das im Sonnenlicht sitzt, einer Frau und einem Mann in Tokio. Wenn der Film so schön wäre wie das Presseheft, würde er die Goldene Palme gewinnen. Das ist er nicht, aber er ist stark, sehr stark, gerade weil er zu seinem Wahnsinn steht, dazu, eine völlig subjektive Version der Wirklichkeit zu bieten, eine persönliche Sicht auf die Welt und das Dasein, also genau, was der Autorenfilm seit jeher will.

"Enter the Void" bedeutet soviel, wie "hinein in die Leere" und das darf man in diesem Fall wörtlich nehmen. Der Film nämlich ist vor allem einmal eine Leerstelle, allerdings eine, die zweieinhalb Stunden dauert, von denen fast jede Sekunde einzeln fühlbar wird. Das ist als Kompliment gemeint, denn wenn es überhaupt eine rationale Erklärung für diesen Film, oder besser gesagt eine Rationalisierung geben sollte, dann ist sie die, dass es dem Regisseur darum ging ungesehene, nicht abgegriffene und angemessene Bilder für einen Drogentrip zu finden.

Die Droge, um die es hier vor allem geht - es geht auch ein wenig um jede andere, aber das würde die Dinge jetzt unnötig komplizieren - heißt DMT, und manche werden jetzt schon wissen, dass es sich um eine Party- und Schamendroge handelt, über die Timothy Leary einiges geschrieben hat, eines der stärksten und extremsten Psychedelica, das oft mit spirituellen Einbildungen verbunden ist. wer DMT nimmt, kann im Rausch Gott "sehen" und andere Dimensionen. DMT wird im Gehirn kurz vor dem Todeseintritt ausgeschüttet und ist vermutlich die Quelle für alle gängigen Nahtoderfahrungen. Und um Nahtod geht es hier auch.

Die Bilder, die Noé für all das kreiert, sind nahe am Experimentalkino: Immer wieder mal schwurbelt die Kamera im Trance in ein Loch hinein, um aus einem anderen herauszukommen, einmal ist die Leinwand minutenlang weiß, sie blitz wie in einem "Flicker-Film". Zudem ist dies der erste Film, der etwas zu 50 Prozent von oben fotografiert ist. Wie der Blick eines besoffenen Engels blickt die Kamera auf die neonumleuchtete Stadt.

Was immer es noch sein sollte, dies ist letztendlich dann doch ein, wenn auch honinteressant gescheiterter Film. Denn er ist insgesamt zu undiszipliniert, zu größenwahnsinnig, von Selbsteingenommenheit triefend, todernst, dadurch unfreiwillig komisch. Wie die Phantasien eines Drogenumnebelten eben.

Am Ende guckt die Kamera dann aus dem Inneren einer leinwandgroßen Vagina und sieht, wie ein Penis in sie eindringt und ejakuliert. Dann begleitet man die ausgestoßenen Spermien auf ihrem Weg ins Innere des Körpers der Frau. Dann mal wieder Weiß, eine Geburt, das Zerschneiden einer Nabelschnur, Geburtsschreie... Offenbar hat Gaspar Noé beim Nachdenken was echt Wichtiges erfahren und uns das jetzt mitgeteilt.