Der lange Arm von Gladio und das Eingeständnis eines Bild-Reporters

Giuseppe Gulotta war 22 Jahre unschuldig eingesperrt – vermutlich für ein Verbrechen der Nato-Geheimarmee

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Der Justizskandal um den heute 55-jährigen italienischen Staatsbürger Giuseppe Gulotta hat vermutlich auch eine gewaltige politische Dimension. Gulotta, der als 18-Jähriger angeblich in eine Carabinieri-Station eingebrochen und zwei Carabinieri erschossen haben soll, saß 22 Jahre als verurteilter Mörder im Gefängnis. Vor kurzem kam heraus: Er ist unschuldig. Was nach einem schlimmen Versagen der Justiz aussieht, bekommt nun einen anderen Geschmack.

Vor wenigen Tagen sprach der ehemalige Vatikan-Korrespondent der Bild-Zeitung, Andreas Englisch, bei Markus Lanz im ZDF mit klaren Worten über den Fall Gulotta. Englisch schilderte hierbei die Umstände, die zur Verhaftung Gulottas geführt haben - aus einer bisher in den Medien unbekannten Perspektive.

Nach seinen Worten haben die beiden erschossenen Carabinieri an jenem Abend des 27. Januars 1976 einen LKW angehalten, der Kriegswaffen für geheime Waffenlager der NATO-Untergrundarmee, Stay-behind, die in Italien als Gladio bezeichnet wird, transportiert hat.

Als die Carabinieri später zurück auf ihrer Wache waren, kam ein Spezialtrupp von Gladio mit einem Schweißgerät an und hat die Tür zur Wache aufgeschweißt. Im Innern der Carabinieri-Station wurden die beiden schlafenden Carabinieri, die zuvor den Waffentransport entdeckt haben, erschossen.

Offensichtlich brauchte die italienische Justiz möglichst schnell einen Fahndungserfolg. Vier junge Männer wurden kurz nach der Tat verhaftet, einer davon war Gulotta, der damals eine Lehre als Maurer absolviert hat. Es folgt ein über Jahre andauernder "Prozess" gegen Gulotta, der die Tat bereits einen Tag nach seiner Verhaftung gestanden hat. Schließlich kam es zu einer Verurteilung, die Gulotta weitere 22 Jahre seines Lebens in Freiheit kosteten.

Doch 2007 die Wende: Ein Ermittler gesteht, Gulotta gefoltert und so das Geständnis herausgepresst zu haben. Bei Markus Lanz schildert Gulotta, wie in er in einer Carabinieri-Kaserne an einen Stuhl gefesselt wurde und von 14 Carabinieri gefoltert und scheinexekutiert wurde. Unter dem Druck sei er zusammengebrochen und habe schließlich die Tat gestanden. Bild-Reporter Englisch kritisiert für die Leidensgeschichte auch die Medien und nimmt sich selbst in die Pflicht. Er sagt: "Ich fühle mich bei dem Fall ja selber schlecht, weil die Medien – und ich auch! – haben in dem Fall versagt. Also dass er reingelegt worden war, das wusste in Italien jeder, das war vollkommen klar. Nur, wir haben auch einfach zu wenig dagegen getan." Auch die weiteren Ausführungen von Englisch sind interessant. Er berichtet davon, dass die schweren Verletzungen, die Gulotta zugeführt wurden, von einem Arzt attestiert worden seien, nur "war das dem Haftrichter völlig egal, weil der so viel Druck aus Rom gekriegt hat..." Englisch sagt weiter, dass er mit zwei italienischen Ministerpräsidenten in den 80er Jahren über den Fall geredet habe und sagt dann: "…meiner Ansicht nach wussten die beide, was damals passiert war."

Mit dem Fall Gulotta rücken nun 13 Jahre nach dem offiziellen Geständnis, dass die NATO-Geheimarmee existiert hat, die Machenschaften von Gladio wieder in die publizistische Öffentlichkeit. Ob es in Deutschland ebenfalls Stay-behind-Truppen gab, wurde offiziell nie bestätigt.

Immer wieder gibt es jedoch begründete Vermutungen, dass Teile des geheimen NATO-Netzwerkes auch in Deutschland aktiv waren, wie zum Beispiel beim Anschlag auf das Oktoberfest 1980 in München.

In Sachen Gladio äußerte sich der 2010 verstorbene SPD-Politiker Hermann Scheer in einem Interview. Unter anderem sagte er: "Die Aufgabe bleibt, dass institutionelle Vorkehrungen getroffen werden müssen, die allesamt mit Transparenz zusammen hängen, damit sich eine Demokratie vor ihren Unterminierern schützen kann. Der Feind sitzt innen – heute mehr denn je. Und nicht mehr außen. Er sitzt mehr denn je innen."

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Andeutungen von Helmut Schmidt in einem Interview der Zeit: "Ich habe den Verdacht, dass sich alle Terrorismen, egal, ob die deutsche RAF, die italienischen Brigate Rosse, die Franzosen, Iren, Spanier oder Araber, in ihrer Menschenverachtung wenig nehmen. Sie werden übertroffen von bestimmten Formen von Staatsterrorismus." Und Giovanni Lorenzo, der das Interview geführt hat, fragt ungläubig nach: "Ist das Ihr Ernst? Wen meinen Sie?" Und Schmidt antwortet: "Belassen wir es dabei. Aber ich meine wirklich, was ich sage."