Arbeitsarmut ist in Deutschland gewachsen

2010 lag Deutschland EU-weit mit dem größten Anteil von Arbeitslosen, die armutsgefährdet waren, an der Spitze

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Die Bundesregierung feiert gerne ihre angeblichen wirtschaftlichen Erfolge, überhaupt bezeichnete sie die Kanzlerin als "die erfolgreichste Bundesregierung seit der Wiedervereinigung". Wirtschaftsminister Rössler legte noch einen drauf und verkündete zum Armutsbericht, den Deutschen gehe es so gut wie nie zuvor. Der Wirtschaft geht es nach der Bundesregierung gut, die Arbeitslosigkeit sei auf dem tiefsten Stand seit 1990, viel mehr Menschen hätten einen Job. Vom Auftürmen des Schuldenstands spricht sie lieber nicht, auch nicht von den Verwerfungen, die sie in der Eurozone bewirkt.

Tatsächlich wird die Zahl der Erwerbstätigen in diesem Jahr eine Rekordhöhe erreichen, aber, so eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Böckler-Stiftung, ist Lohnarbeit nicht allein schon eine seligmachende Angelegenheit, wie die Bundesregierung sich immer wieder lobt. Seit Beginn der Hartz-Reformen und damit der Liberalisierung des Arbeitsmarktes hat nach dem Autor und Sozialwissenschaftler Eric Seils die Armut in der Erwerbsbevölkerung "stark zugenommen": "Der Anteil der Armen in der Erwerbsbevölkerung ist heute deutlich höher als 2004. Das gilt sowohl für Beschäftigte als auch für Arbeitslose."

Seils hat die neuesten Eurostat-Armutsdaten ausgewertet, die allerdings aus dem Jahr 2010 stammen. Seitdem dürfte sich die Lage in Ländern wie Griechenland, Spanien oder Portugal deutlich verschlechtert haben. Schon 2010 zeigten sich die ersten Folgen in Griechenland, wo die Zahl der armen Arbeitslosen um 15 Prozent gestiegen ist, aber auch, wenngleich weniger stark, in Spanien und Italien. Verfälschen könnte in Südeuropa die Zahlen, da jungen arbeitslose Menschen oft zu ihren Eltern zurückkehren - und wenn aufgrund der Krise und der Sparmaßnahmen die Einkommen sinken, sinkt auch die Schwelle zur Arbeitsarmut.

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Grafik: Hans-Böckler-Stiftung

2010 jedenfalls waren in Deutschland 7,7 Prozent der Erwerbstätigen von "Arbeitsarmut" bedroht, sie waren also arm, obgleich sie arbeiteten. Gegenüber 2004 ist der Anteil um 2,9 Punkte gestiegen, was einen Zuwachs von 38 Prozent bedeutet. Die Armutsgrenze beginnt nach der Definition dann, wenn Menschen über "weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens" verfügen, das wären in Deutschland monatlich weniger als 952 Euro. In der EU nahmen die Working Poor um 1,4 Prozent zu, weswegen Deutschland hier nur noch einen mittleren Platz unter den EU-Ländern einnimmt.

Für Seils ist die wachsende Arbeitsarmut nicht alleine auf die so genannten atypischen Beschäftigungen zurückzuführen, die in Deutschland seit der Einführung von Hartz IV ebenfalls stark zugenommen haben. Der Trend zu wachsender Arbeitsarmut habe "gleichsam die Breite des Arbeitsmarktes erfasst". Um 2 Prozent sank der Anteil der von Armut bedrohten Arbeitslosen zwischen 2009 und 2010 auf 68 Prozent - was weit über dem EU-Durchschnitt von 46 Prozent lag. Und wohl dank Hartz IV lag die Armutsquote bei Arbeitslosen um 24 Prozent höher als 2004. Einen großen Anteil haben daran die Langzeitarbeitslosen, aber auch jene, die schon als Beschäftigte arm waren.