Untergangsgerede

Erneut wird der Niedergang, das Ende und der Tod beschworen, wie zuletzt vor über einem Vierteljahrhundert. Diesmal trifft es den Euro, den Finanzmarkt, den Kapitalismus - ja sogar das soziale und politische System

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Unheils-Semantiken haben wieder Konjunktur. Zuletzt war das vor knapp dreißig Jahren der Fall, als Marschflugkörper und Pershing-Raketen in Mitteleuropa stationiert werden sollten und die Angst vorm Atomtod Zighunderttausende auf die Straßen trieb. Kurz davor hatte der Club of Rome noch das "Ende des Wachstums" verkündet, der BUND den deutschen Wald sterben lassen und Holger Strohm uns "Friedlich in die Katastrophe" schippern sehen.

Untergangsblasen

Im intellektuellen Umfeld etablierte sich daraufhin, auch, weil allzu optimistische Annahmen politisch fortschrittlicher Milieus über Autonomie und Emanzipation von Mensch und Gesellschaft sich als trügerisch und unrealistisch herausgestellt hatten, unter Soziologen, Philosophen und Philologen ein Krisendiskurs, der sich alsbald auf nahezu alle Genres des geisteswissenschaftlichen Spektrums erstreckte.

Meine Bücherwände sind noch voll mit Schmökern von Dietmar Kamper und Jean Baudrillard, von Klaus Vondung oder Gérard Raulet, mit Titeln wie: "Die Apokalypse in Deutschland", "Die "sterbende Zeit", "Rückblick auf das Ende der Welt", "Der Tod der Moderne", die öffentliche Aufmerksamkeit erlangten und eine mehrjährige und teilweise erbittert geführte Diskussion über Moderne, Postmoderne und Posthistoire in Gang setzten.

Als dann tatsächlich ein "Untergang" und "Zerfall" zu bestaunen war, der des Ostblocks und des Sowjetsozialismus, platzte abrupt jene Blase, die von Untergangspropheten herbeigeredet worden war. Schlagartig war es mit der Untergangsseligkeit vorbei. Die Mittelstreckenwaffen und die beharrliche Haltung des damaligen Bundeskanzlers Schmidt hatten den Niedergang der Stalinismus beschleunigt, das Wachstum, der Wald und der Rhein hatten sich als erstaunlich robust erwiesen und aus dem prognostizierten "Ende der Geschichte" und dem "Tod des Subjekts" war flugs ein "Neubeginn" und "Neuanfang" geworden.

Unheilsprophetien

Mit der Suprime-, Banken- und Schuldenkrise, begleitet vom Atomunfall in Fukushima, scheint sich dieser Zyklus zu wiederholen. Allerorten werden wieder Bocksgesänge angestimmt, wahlweise auf den globalen Kapitalismus, den Neoliberalismus, und die Globalisierung, auf Europa, den Euro oder die Globalisierung. Und zwar nicht nur, wie man vermuten könnte, in den Standardmedien antikapitalistischer Systemkritik, sondern auch und vor allem in den Sprachrohren der bürgerlich-konservativen Milieus.

Der US-amerikanische Präsident warnte jüngst angesichts der Finanzkrise und des US-amerikanischen Haushaltsstreites vor einem wirtschaftlichen "Armageddon" und der frühere US-Notenbankchef Alan Greenspan vor einem ( Zusammenbruch des Euro und der Eurozone), FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher beschwor den Verfall der bürgerlichen Werte herauf und die US-Ökonomen Paul Krugman und Nouriel Roubini sagten das Ende des kapitalistischen Systems voraus.

Jüngst haben zwei Soziologen des Max-Planck-Instituts in Köln dem florierenden Untergangsgerede eine weitere Fußnote hinzugefügt. Die Finanzkrise habe mittlerweile ihre dritte Phase erreicht. Nachdem die Staaten zunächst die Banken und die starken Staaten dann die schwachen gerettet hätten, erfasse der Strudel jetzt auch die vermeintlich finanzstarken Staaten, die USA und Frankreich. Es sei daher nur eine Frage der Zeit, bis auch Deutschland ins Visier "der Märkte" komme. Auch dessen Kreditwürdigkeit schwinde in dem Maße, wie es gezwungen sein werde, für die Schulden anderer aufzukommen.

Verteilungskrise

Mittel, wie man die Krise eindämmen oder gar beheben könnte, sehen sie indes nicht. Alle vier Möglichkeiten, die zur Verfügung stünden und mit denen die Politik derzeit experimentiert: strikte Ausgabenbegrenzung, Steuererhöhungen, Gläubigerverzicht, Inflationspolitik, führten letztendlich zu sozialen und politischen Verwerfungen in den jeweiligen Ländern.

Für ihr Dafürhalten ist die Schuldenkrise keine Krise des politischen Systems, sondern vor allem eine Verteilungskrise. Die Zuwächse des Sozialprodukts wären in den letzten dreißig Jahren vornehmlich den Wohlhabenden zugute gekommen. Nun stelle sich die Frage, bis zu welchem Preis unter Inkaufnahme einer massiven sozialen und politischen Krise diese Reichen bereit seien, ihren erreichten Status zu verteidigen.

In der Tat zeigen Studien des DIW und des Allensbacher Instituts, dass die soziale Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. Im Laufe der letzten Jahre sind die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer geworden – auch weltweit.

Steigen Vermögen und Anteil der Wohlhabenden, schrumpfen die Mittelschichten stetig. Aus der vormaligen Zwiebel einer "nivellierten Mittelschichtsgesellschaft", die vor vierzig Jahren zu Zeiten Helmut Schelskys in den Gymnasien noch gelehrt wurde, beginnt sich nach und nach in eine Sanduhr zu verwandeln.

Teil des Problems

Allerdings ist das soziale Auseinanderdriften von Arm und Reich nicht nur eine Frage des materiellen Habens und Wohlstands. Vielmehr entfernen sich die sozialen Schichten auch hinsichtlich ihre Interessen, Lebensstile, Weltanschauungen und Alltagskultur immer mehr voneinander. Schon dies zeigt, dass sich das Problem nicht handstreichartig lösen lässt, zumindest nicht mit einer Umverteilung von oben nach unten.

Einerseits beklagen die beiden Soziologen selbst, dass massive Steuererhöhungen der Konjunktur mehr schaden als nützen. Andererseits wissen sie auch, dass es genügend Schlupflöcher für Wohlhabende und transglobal operierende Akteure gibt, um Maßnahmen einzelner Staaten oder Staatenverbünde geschickt zu umgehen.

An solchen Vermeidungsstrategien scheitern letztlich auch alle Bierdeckelprojekte, die der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof immer wieder mal verlangt und vorlegt. Und daran sind bislang auch alle vollmundigen Pläne zur Besteuerung von Finanztransfers kläglich gescheitert. Wer sie eingeführt hat, siehe Schweden, der hat sie nach ein paar Jahren wieder zurückgenommen, weil der Aufwand den Ertrag bei weitem überschritten hatte.

Die Vernetzung und Verdichtung von Waren und Geld, Kapital und Menschen hat bekanntlich Prozesse so sehr beschleunigt, dass die Politik mit ihren Entscheidungen nur noch hinterhinken kann. Weil die Finanzmärkte der Politik keine Atempausen mehr gewähren, sind alle Beschlüsse, die in Brüssel, Paris oder Berlin bislang gefasst wurden, um die Märkte zu zähmen, über Halbwertszeiten ihrer amtlichen Verkündung nicht hinaus gekommen. Jede vermeintliche Basta-Politik wurde alsbald von einem "Gegenvotum" der Märkte konterkariert und zunichte gemacht.

Längst bilden Nationalstaaten bilden keine geschlossenen Systeme mehr, wo der einzelne souverän über sich allein befinden könnte. Weder Unternehmen noch Gruppen oder Staaten leben auf einer Insel der Seligen. Jede Entscheidung, die irgendwo auf dem Planeten gefällt wird, kann anderswo enorme Auswirkungen auslösen, siehe Fukushima. Umdenken und Umsteuern könnte daher nur gelingen, wenn sich nicht nur alle einig wären, sondern sich auch noch daran halten. Das ist aber, wie man beim Klimawandel und beim Atomausstieg gesehen hat, kaum vorstellbar.

Nicht die Lösung

Selbst wenn Wohlhabende wie Warren Buffet erklären, dass sie gern mehr Steuern zahlen möchten, dann mag das vielleicht Balsam auf die geschundenen Seelen der bürgerlichen und linken Milieus sein. Doch am Kernproblem ändert sich wenig. Zum einen könnte Herr Buffet gern freiwillig Teile seines Vermögens abtreten und sie wie Herr Gates oder Herr Getty damals in die Obhut gemeinnütziger Stiftungen geben.

Vermutlich könnte er damit sogar mehr bewirken, als wenn er sie via Steuern in die "dunklen Kanäle" des Staates fließen ließe, wo sie, wie die Erfahrung zeigt, irgendwo versickern. Beispiel gefällig? Der Soli wurde einst erfunden, um die ostdeutschen Gebiete zu fördern. Das tut er allerdings schon lange nicht mehr. Seitdem dort tatsächlich "blühende Landschaften" entstanden sind, dient er nur noch dazu, Löcher im Bundeshaushalt zu stopfen. Anderes Beispiel? Die CSU ist für die Einführung einer PKW-Maut. Damit will sie dringend nötige Straßenprojekte finanzieren. Natürlich soll die Steuer nur dafür erhoben werden. Aber war das bei Soli nicht auch schon so? Sollte der nicht auch Aufgaben gebunden bleiben?

Zum anderen wären solche Aktionen vermutlich gleichbedeutend mit dem berühmten Tropfen auf den heißen Stein. Selbst wenn man die Reichen und Wohlhabenden in diesem Land, in Frankreich oder in der Eurozone (ab wann gilt jemand eigentlich als reich und wohlhabend?) besteuerte, reichte das bei weitem nicht aus, um die Schulden zu tilgen und den ständig wachsenden Finanzbedarf der einzelnen Staaten zu decken. Allein der Haushalt der Bundesrepublik Deutschland wendet bereits über vierzig Prozent seines Etats für Sozialleistungen auf. Erwirtschaftet wird er von einem Bruchteil der Bevölkerung. Mehreinnahmen sind bekanntlich nur von der so genannten Mitte der Gesellschaft zu holen. Ausgerechnet diese Gruppe schrumpft aber ständig.

Mit Umverteilung, das heißt der Erhöhung von Spitzensteuersätzen, Erbschafts- und Vermögenssteuern, der Einführung einer Reichensteuer oder "Stempelsteuer", wie das Erhebung von Entgelten auf Finanztransaktionen auch gern genannt wird, löst man die Ver- und Überschuldungsprobleme der Staaten wohl nicht. Ohne eine strikte Begrenzung der Ausgaben, der Einführung von Schuldenbremsen und die Rückkehr zum maßvollen Wirtschaften wird da nichts zu machen sein.

Griechenland ist überall

Doch dafür fehlt, trotz vollmundiger Ankündigungen zuletzt auf dem deutsch-französischen Gipfel in Paris, der Glaube. Zumal der deutsche Finanzminister schon stolz ist, weil er die Neuverschuldung, die Altschulden sind da nicht angesprochen, in diesem Jahr auf "nur" dreißig Milliarden beschränken kann, also rund zehn Prozent des Staatshaushalts.

Historisch lässt sich genau nachzeichnen, wie sehr alle wohlhabenden westlichen Staaten nach der ersten großen Weltwirtschaftskrise Jahr für Jahr in die Schuldenfalle des Wirtschaftens auf Pump getappt sind. Mit teilweise absurden Gefälligkeiten haben sich politischen Parteiungen Loyalitäten ihrer Bürger erkauft und damit ihre Macht vor Wahltagen gesichert. Zuletzt erst die FDP, die ihren Wählern trotz der akuten Finanzprobleme massive Steuererleichterungen in Aussicht gestellt hatte.

Griechenland ist, das haben wir in den letzten Jahren und Monaten schmerzlich erfahren, überall. Nicht nur die Bürger auf der antiken Halbinsel lebten Jahrzehnte lang über ihre Verhältnisse, auch die Starken tun das seit Jahrzehnten. Das wissen die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Kultur auch. Trotzdem geben der Staat und seine Regierungen weiter Jahr für Jahr mehr aus als sie haben, spätere Generationen aber mit geringeren Renten, Zwang zur privaten Eigenvorsorge und exorbitant hohen Gesundheitskosten mal bezahlen müssen.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist darum, was gern übersehen wird, vor allem auch eine des politischen Systems. Nicht der Kapitalismus, die Ermächtigungsgesetze, die von den Regierenden derzeit von ihren Parlamenten gefordert werden, gefährden die Demokratie. Deshalb wird die Krise auch nicht behoben sein, sollte es, wie die beiden Soziologen fordern, der Politik tatsächlich gelingen, die Hasardeure auf den globalen Finanzmärkten zu stoppen und die Reichen an den Kosten zu beteiligen.

Beobachter nötig

Spekulationsgeschäfte von Hedge-Fonds, die auf Staatsbankrotte oder den Verfall von Währungen wetten, mag man moralisch verurteilen; die Finanzjongleure mag man ob ihrer Gier und horrenden Boni des allgemeinen Sittenverfalls zeihen; und auch "die Märkte" mag man als Verursacher und Katalysatoren der Krise an die Wand nageln: gleichwohl sind sie aber auch, im gut Luhmannschen Sinn, Beobachter und Korrektoren. Sie legen den Finger in offene Wunden, dorthin, wo die Staaten, die Politik und Regierungen schludern und ihr Haus nicht in Ordnung halten. Gibt man diese nützliche Unterscheidung von System und Umwelt auf, kann man, wie angedeutet, nur noch allgemeines Unheil erkennen.

In dieser Hinsicht funktionieren der Markt und das gesellschaftliche System jedenfalls. Und in gewisser Weise muss man ihm sogar dankbar sein, dass er tut, was er tut. Man stelle sich vor, es gäbe diese mahnenden und warnenden Beobachter nicht. Hätte sich ein französischer oder italienischer Präsident (auch wenn das bislang nur Lippenbekenntnisse sind) jemals öffentlich zu Ausgabenbegrenzung, Maßhalten und Haushaltsdisziplin bekannt, wenn Ratingagenturen ihnen nicht die gelbe Karte gezeigt hätten?

Um den Untergang des Kapitalismus braucht man sich daher vorerst keine Sorgen zu machen. Wie sein vormaliger Gegenspieler, der Kommunismus, schon beobachtet hat, gehört die Erzeugung von Krisen zu seinem Geschäft wie das Amen zur Kirche. Die Abgesänge, die derzeit auf ihn angestimmt werden, kommen verfrüht. Gerade seine "schöpferische Destruktivität" ist es, die ihn seit Joseph Schumpeters seligen Tagen nährt und am Leben erhält.

Bemerkenswert am Untergangsgerede ist freilich, dass als Remedium und Alternativprogramm mitunter ein Ideengebäude und Glaubenssystem empfohlen wird, das selbst vor mehr als zwanzig Jahren sein ökonomisches und politisches Waterloo erlebt hat. Manchmal scheint das Gedächtnis doch kurze Beine zu haben.