Placebos ohne Täuschung

Jetzt ist es soweit: Placebos wirken selbst dann, wenn die Patienten wissen, dass sie ein Scheinmedikament einnehmen. Oder nicht?

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Der Begriff "Placebo" steht noch immer für einen Schwindel, für eine ärztlich verordnete Mogelpackung. Die Annahme war bisher, dass Ärzte ihre Patienten belügen müssen, damit der Placebo wirkt. Eine Gruppe um die Placebo-Forscher Irving Kirsch und Ted Kaptchuk hat nun eine Studie mit dem Titel doi/10.1371/journal.pone.0015591: "Placebos ohne Irreführung" veröffentlicht. In dem Experiment mit 80 Reizdarm-Patienten (engl. IBS) hatten sie diese vor der Einnahme der inhaltslosen Pillen darüber aufgeklärt, dass sie einen Placebo einnehmen. Trotzdem wirkte das Mittel.

Die Kontrollgruppe erhielt zwar keine Placebos, war aber gleichwohl keineswegs nicht-behandelt: Wie die Placebo-Gruppe klärte man sie darüber auf, dass der Placebo-Effekt wie eine klassische Konditionierung funktioniert, der Körper also darauf trainiert werden kann, sein "körpereigenes Heilungssystem" durch den Akt der Pilleneinnahme anzuwerfen. Mehr noch, jedem Teilnehmer wurde erzählt, dass der "Placebo-Effekt stark ist" und "eine positive Einstellung hilft, aber nicht notwendig ist". Zudem kümmerten sich Ärzte um beide Gruppen und sprachen über die Krankheiten mit ihnen.

Interessanterweise berichteten beiden Gruppen von einer Linderung der Beschwerden, die unter Placebo-Einfluss stehenden Patienten gesundeten aber besser. Signifikant? Das bleibt bei näherer Betrachtung der Ergebnisse umstritten. Nicht nur war die Probandengruppe recht klein, die Ergebnisse beruhen allein auf den subjektiven Berichten der Patienten. Objektive Daten, wie beispielsweise die Verringerung einer Arzneimitteldosis durch den Patienten, wurden leider nicht erfasst. Auch konnte nicht ausgeschlossen werden, dass die Patienten ihre Linderung nur angeben, um den Wissenschaftlern zu gefallen.

So schön die Idee scheint, die Frage ist, ob der Studienaufbau nicht doch mängelbehaftet ist. Denn zum einen hat das Reizdarmsyndrom weithin unklare Ursachen, die psychische Komponente ist groß. Zusätzlich hatte schon das Auswahlverfahren Patienten bevorzugt, die eher an Körper-Geist-Interaktionen glauben. Zum anderen hätte man, um die Wirkung des Placebos trennscharf von der ärztlichen Beeinflussung ("klassische Konditionierung") zu unterscheiden, eine Kontrollgruppe einsetzen müssen, denen gesagt worden wäre: "Ihr erhaltet Pillen ohne wirksame Subtanz." So aber addieren sich ärztliche Zuwendung und der emotional aufgeladene, optimierte Placebo ("körpereigenes Heilungssystem", "starker Placebo", "positive Einstellung") in ihrer Wirkung. Am Ende ist unklar, welche Suggestionskraft hier die andere beeinflusst hat.

Die gesamte pharmazeutische Industrie, die sich noch mit dem entwickeln neuer Arzneistoffe beschäftigt, fußt auf dem Placebo-Effekt. Dieser sorgt dafür, dass künftige Medikamente ihm gegenüber besser abschneiden. Aus diversen Gründen ist es in den letzten Jahrzehnten immer schwerer geworden, eine Wirksamkeit gegenüber Zuckerpillen nachzuweisen. Ein Grund scheint zu sein, dass der Placebo-Effekt korrespondierend mit der Bekanntheit und Akzeptanz der Antidepressiva immer stärker wird. Man hat heute Probleme, die vielen Placebo-Responder aus einer klinischen Studie auszusortieren.

Auf der anderen Seite wird gerade der Homöopathie wird vorgeworfen, ausschließlich mit dem Placebo-Effekt zu arbeiten. Wo die einen argumentieren, dass "wer heilt, Recht hat", bezweifeln andere, ob hier überhaupt ein normierter, wiederholbarer und zielgerichteter Einsatz möglich ist. Mittlerweile gilt als gesichert, dass der Placebo-Effekt sich zu großen Teilen aus der Erwartungshaltung des Patienten und der Übertragungsleistung des Arztes speist.

Die nun vorliegende Studie könnte ein Beginn sein, die positiven Seiten des Placebo-Effekts weiter zu erforschen. Finanzielle Mittel aus der pharmazeutischen Industrie sind dabei freilich nicht zu erwarten. Alosetron ist in Deutschland nicht zugelassen. In einem pharmakotherapie-orientierten Gesundheitssystem wieder die therapeutische Beziehung zwischen Arzt und Patient in den Vordergrund zu bringen, dürfte klug sein. Dies schöbe den Patienten zugleich aus seiner oft allzu passiven Rolle hinaus. Die Medizin-Ethiker schütteln sich, denn inaktive Subtanzen zu vergeben, deren Wirkungsweise nicht verstanden ist, gilt als falsch.

Vielleicht reicht die Übertragungsleistung von Kirsch und Kollegen aber auch weit in das Patientenbefinden hinein, denn die Studie wurde nicht nur vom National Center for Complementary and Alternative Medicine ( NCCAM) finanziert, sie steht auch im Zusammenhang mit einem vieldiskutierten Buch von Kirsch mit dem Titel "The Emperor's New Drugs", in dem er behauptet, die Wirksamkeit von allen Antidepressiva beruhe aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Placebo-Effekt.