Problematische Doppelbedeutung

Der Stern hat Deutschland versehentlich eine "Sexismusdebatte" beschert

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Letzte Woche wollte der Stern mit einer ein Jahr alten Geschichte eines gründlich misslungenen Flirts des (in diesen Sachen nicht sehr auf zeitlicher Sittenhöhe wirkenden) FDP-Fraktionsvorsitzenden Rainer Brüderle mit einer damals 28-jährigen Journalistin anscheinend eine Kampagne gegen den Politiker lancieren. Das klappte nur bedingt: Denn erstens wurde Brüderle nach dem überraschenden Leihstimmenerfolg der FDP in Niedersachsen nur (weniger aufmerksamkeitstauglicher) Spitzenkandidat und nicht neuer FDP-Vorsitzender und zweitens diskutiert man in deutschen Medien jetzt nicht über ihn, sondern über "Sexismus".

Das ist ein problematischer Begriff, weil er zwei Inhalte vermengt: Eine Benachteiligung nach dem Geschlecht und eine als unangemessen empfundene Betonung des Geschlechtlichen. Besonders gut sichtbar wurde dies in einem kurz nach der Stern-Meldung veröffentlichten Spiegel-Online-Artikel von Patricia Dreyer, in dem die Chefin vom Dienst schreibt, dass Frauen ständig "dumme Sprüche, blöde Anmache, [eine] Reduzierung aufs Äußerliche Diskreditierung aufgrund ihres Geschlechts" hinnehmen müssten. "Wir", so Dreyer, "erleben auch in Zeiten von Quoten-Debatte und Frauenförderung immer noch täglich […] wie Männer glauben, ihre vermeintliche Unwiderstehlichkeit zum Ausdruck bringen zu müssen, wie Männer eine berufliche Situation zum sexuellen Jagdrevier machen".

Bevor Dreyer zum Spiegel kam, arbeitete sie für die Bild-Zeitung. Dort schrieb sie eine ganze Reihe von Artikeln über die Schauspielerin Sibel Kekilli, die mittlerweile durch Game of Thrones zu Weltruhm gelangte. Das Berliner Kammergericht urteilte über die damaligen Artikel, die Schauspielerin werde darin in "höhnischer Weise herabgesetzt und verächtlich gemacht".

Als Hebel für diese Angriffe diente Dreyer, dass Kekilli ihre Karriere mit viel Körpereinsatz begann. In ihren damaligen Texten wird ein eifernder Puritanismus sichtbar, der sich jedoch nicht schämt, Aufmerksamkeit aus der Pose der Abscheu vor dem Sexuellen zu schlagen. Dieser Puritanismus prägt auch viele der aktuellen Beiträge zur "Sexismusdebatte" und die #Aufschrei-Kampagne in Twitter, in der es zu einem großen Teil um Busenblicke zu gehen scheint. Die Verbindung von Puritanismus und Feminismus, die darin deutlich wird, vermengt die beiden verschiedenen Bedeutungen des Begriffs "Sexismus" noch stärker, als dies bereits jetzt der Fall ist. Und sie verhindert auf diese Weise, dass über interessantere und komplexere Mechanismen von Geschlechterdiskriminierung gesprochen wird – zum Beispiel darüber, was es heißt, wenn eine Redaktion die "Dirndlfigur" einer Journalistin für eine politische Kampagne nutzt, wie Thomas Stadler in seinem Blog anmerkte.