Talkendes Fußballexpertentum

Das öffentlich-rechtliche Staatsfernsehen leistet sich gut bezahlte Fußballexperten. Doch klüger und schlauer wird der Zuschauer davon nicht

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Mehmet Scholls Kritik an der Spielweise und Laufbereitschaft der deutschen "Neun", Mario Gomez, hat für viel öffentliches Aufsehen gesorgt. Weniger des Inhalts wegen. Die ist nämlich prinzipiell so falsch nicht. Sowohl im Spiel gegen Portugal (17) als auch im Holland-Spiel (26) hatte der deutsche Stürmer mit Abstand die wenigsten Ballkontakte und gewann auch die wenigsten Zweikämpfe.

Sondern hauptsächlich wegen Form und Stil von Scholls Beanstandung. Derlei Medienschelte, dazu noch von einem ehemaligen Kollegen, ist eher ungewöhnlich und unüblich - besonders im deutschen Fernsehen.

Aufklärung? Nein danke!

In aller Regel wird zwischen Moderator und Experten vor, während und nach dem Spiel eher Nichtssagendes getauscht, es werden Floskeln, Plattitüden oder Leerformeln produziert, die das Phrasenschwein eines bekannten privaten Sportsenders zum Jubeln brächten über den steten Zufuhr an klingenden Münzen.

Was sich dagegen genau auf dem Platz ereignet oder zugetragen hat, warum Mannschaft A gewinnt oder der Mittelfeldspieler B sich so und nicht anders verhalten hat, darüber erfährt der Zuseher zumeist recht wenig. Auf genaue Taktikanalysen und Handlungsweisen der Spieler, wie sie sich Räume schaffen oder sie verengen und die gegnerische Raumaufteilung sabotieren, wird meist weniger Wert gelegt.

Derlei Betrachtungen über Spielweisen und Spielsysteme, wie die Spieler sich darin bewegen, gehören auch nicht gerade zum Repertoire all jener Reporter, Moderatoren und Fußballexperten, denen wir seit Jahren vor dem Screen zuhauf begegnen. Gäbe es nicht das Netz, wo die Sender mitunter das liefern, was in den Hauptsendungen unterbleibt, könnte man der Auffassung zuneigen, das interessiere sie überhaupt nicht.

Unbemerkt

Nichts hätte die Diskrepanz zwischen dem derzeitigen Zustand des fußballerischen Expertentums in Deutschland und dem zeitgenössischen Niveau ausdifferenzierter Fußballtaktik und Systemanalyse besser dokumentieren können als die Spiele Italiens gegen Spanien und Kroatien.

Als Spanien ohne nominellen Stürmer antrat, stattdessen mit sechs Mittelfeldspielern wie zuweilen der FC Barcelona, Ajax Amsterdam zu Zeiten König Johans, oder, in grauer Vorzeit, das ungarische Dreamteam um Puskás, Koscic und Nándor Hidegkuti, der erste "falschen Neun", war das dem ZDF keine Würdigung, Problematisierung oder gar spieltaktische Wertung und Einordnung wert.

Weder der kommentierende Reporter noch das moderierende Team mit dem "Experten" Olli Kahn auf der Usedomer Seebühne wusste mit dieser 4-6-0 Spieltaktik des spanisches Trainerfuchses Vicente del Bosque, die das bislang üblich taktische Spektrum enorm erweitert, überhaupt etwas anzufangen.

Unwichtig

Und dass Italien im selbigen Spiel wie im darauffolgenden gegen die Kroaten mit einer taktischen Neuerung aufwartete und statt des gängigen 4-2-3-1, das auch die Löw-Truppe praktiziert, eine Dreierkette bevorzugte, dem ein Fünfermittelfeld zur Seite stand, das sich bei Angriffen des Gegners sofort zu einer Fünferkette formierte, fand bei den Teams der übertragenden Sender keine gesonderte Behandlung.

Dies verwunderte umso mehr, als es sich tatsächlich um eine Innovation handelt, die Cesare Prandelli da auf europäischer Bühne vorexerzierte und die von einigen italienischen Vereinen wie dem SSC Neapel oder auch dem AC Florenz, dessen Trainer er früher mal war, schon erfolgreich angewandt worden war. So zum Beispiel im CL-Achtelfinalspiel des AC Florenz gegen den FC Bayern vor zwei Jahren, das die Fiorentina dann aber wegen der Klasse eines Arjen Robben dann doch verlor und ausschied.

Uns Loddar

Bei diesem Spielsystem werden nämlich nicht nur die beiden Stürmer von vermehrter Abwehrarbeit freigestellt, was den Vorteil hat, dass ihnen mehr Kraft und Tempo für Sprints in die gegnerische Hälfte bleibt, den beiden Außenverteidigern kommt auch eine tragende Rolle zu. Sie stehen nicht mehr so "hoch" wie etwa die spanischen oder so "tief" wie häufig der deutsche Philipp Lahm, sondern bewegen sich in Höhe der Mittellinie auf den Außenpositionen und können dort wie echte Mittelfeldspieler auftreten.

Erst der oft gescholtene Lothar Matthäus konnte Reinhold Beckmann in der Halbzeitpause, der über dessen Fachwissen und Urteilskompetenz sichtlich verdutzt war, in vier, fünf Sätzen die Vorzüge dieses ebenso variablen wie flexiblen Spielsystems plausibel machen, das in der Defensive als 5-3-2 operiert, in der Offensive sich dann aber rasch zu einer 3-5-2 Variante aufstellt oder anordnet.

Inkompetent

Weit schlechter schaut es diesbezüglich auf den Reporterbänken oder gar in den Moderatorenstudios aus. Mit ihren öden Kommentaren lassen sie das Spiel für viele Zuschauer häufig zur Qual werden. Den Ton abzustellen, wie manche Schlaumeier meinen, empfiehlt sich nicht, da man sich dadurch auch der Atmosphäre in den Stadien beraubt.

Statt eine vernünftige Spielanalyse zu tätigen oder das taktische Geschick, Spielverhalten und Geschehen auf dem Platz für die Zuseher transparenter zu machen, wird er in aller Regel mit überflüssigen Anekdoten, unnützen Spielstatistiken oder vergangenen Spieldaten "gefüttert", für die der eine oder andere Reporter (man denke da an den ZDF-Reporter Béla Rethy) ein besonderes Faible zu haben scheint.

Um dem Zuseher doch irgendwie Fußballkompetenz vorzugaukeln, werden bisweilen Trainerbegriffe wie Pressing oder Gegenpressing, hoch- oder tiefstehende Abwehrreihen, Kurzpass- oder Umschaltspiel eingestreut, die den Prozess oder die Eigendynamik des Spiels auf dem Rasen nicht unbedingt klarer machen. Oder es werden südländische Reporterkollegen und deren aufgesetzt wirkender Enthusiasmus kopiert. So kommt es, dass etwa der WDR-Sportchef Steffen Simon urplötzlich wie von der Tarantel gestochen ins Mikrofon schreit, weil Lukas Podolski einmal aufs Tor schießen will oder Manuel Neuer einen abgefälschten Schuss über die Latte lenkt.

Experten-Unwesen

Dieses Defizit, das Reporter und Moderatoren im spieltaktischen Bereich aufweisen, ist den Sendern durchaus bekannt. Darum hat sich in den letzten Jahren, nicht nur hierzulande, das sogenannte "Expertentum" vor den Fernsehschirmen breit gemacht. Auch weil man damit die Übertragungszeiten strecken (allein dem Champions League Endspiel zwischen Bayern München und dem FC Chelsea widmete Sat1 einen halben Tag) und die exorbitant hohen Übertragungsrechte wieder "einzuspielen" kann.

Bei diesen "Pundits", wie sie im Englischen heißen, handelt es sich meist um ehemalige Fußballprofis, die sich während ihrer Laufbahn einen hinreichend großen Bekanntheitsgrad erworben und sich vor den Kameras als medientauglich erwiesen haben - "medientauglich" heißt hier wohl: in kurzen verständlichen Sätzen einen Sachverhalt wiedergeben können.

Doch zu einer Aufklarung des Spielgeschehens, was die Kombination von System und Spielstil meint, hat auch dieses rasant um sich greifende "Punditry-Unwesen" im deutschen wie im europäischen Fernsehen nicht geführt. Im Gegenteil!

Willensmetaphysiker

Trotz avancierter Medientechnik und ausgefeilter Spielsoftware, die das Fußballspiel bekanntlich in Passfolgen, Laufwege und Torschüsse detailliert zerlegen, schwadronieren die "Pundits" lieber von "gewaltigen Drucksituationen", fehlender "Konzentration" oder "Motivationsproblemen", die Mannschaften haben, von "hitzigen Spielen" oder vom "unbedingten Siegeswillen", den die Spieler diesmal vermissen lassen ( Olli Kahn).

Oder sie faseln von "schleppendem Tempo" und "mangelnder Kondition", von "Schönheitspreisen", die es aktuell nicht zu gewinnen gibt, und von Teams, die ihren "Rhythmus" noch nicht gefunden oder noch nicht "im Turnier angekommen" sind (M. Scholl).

Immer noch, so scheint es, ist das Interesse an taktischen Fragen hierzulande unterentwickelt, sind lustvoll geführte Debatten über die Vor- und Nachteile von Spielweisen und Spielsystemen obsolet und müssen Mannschaftsgeist und Kampfesmut, richtige Einstellung und unbeugsamer Einsatzwillen ein mangelhaftes taktisches Verständnis ersetzen. Zumal es auch um Unterhaltung geht.

Den Vogel schießt bekanntlich der deutsche Fußballkaiser ab, ein allseits hochgeschätzter "Fußballexperte", der auf allen Kanälen dauerpräsent ist, auf den privaten und öffentlich-rechtlichen genauso wie im Bezahlfernsehen. Als legendär dürften jene Kommentare gelten, die ein Spiel von "Obergiesing" gegen "Untergiesing" vermelden. Legendär gilt mittlerweile aber auch der ehemalige Bayern-Trainer und derzeitige Coach der Schweizer "Nati", Ottmar Hitzfeld, bei dem häufig die Mannschaft B der Mannschaft A in die Hände gespielt oder ihre vielen "Chancen" nicht genützt hat.

Alternativen

Vergleichsweise wohltuend verhalten sich da bisweilen all jene Reporter, die beim Bezahlsender Sky die Spiele der Bundesliga, der Premier oder Champions League kommentieren. Gewiss ist auch im Pay-TV nicht alles gut. Auch dort hat sich längst ein Expertenunwesen etabliert mit dem unsäglichen Kaiser Franz und dem anachronistisch wirkenden Otmar Hitzfeld an der Spitze. Und auch der dortige (Bayern)Chefreporter Marcel Reif wäre sicher jemand, den man gern ablösefrei zu den Öffentlich-Rechtlichen transferieren würde.

Doch in aller Regel erweisen sich diese Kommentatoren als wesentlich kompetenter als ihre Kollegen vom frei zugänglichen Fernsehen. Anders als diese können sie auch ein Spiel lesen, es analysieren und auch entziffern. Hinzu kommt, dass das Spiel (zumindest nicht in dem Ausmaß) nicht ständig von Werbebotschaften unterbrochen wird, oder von sinnfreien Nachbetrachtungen wie "Waldis EM-Club", wo die Fernsehprominenz 3.0 des Ersten mit dem unerträglichen Matze Knop zugegen ist, freigehalten wird.

Tiefer blickend

Wer Tiefergehendes sucht, der sollte sich diesbezüglich die Webseite www.zonalmarking.net ansehen. Dort werden das ganze Jahr über nicht nur die wichtigsten Spiele genau untersucht, analysiert und gewürdigt, es werden derzeit auch alle Spiele der EM, was taktische Ausrichtung und spieltechnische Umsetzung angeht, eingehend auf- und nachbereitet. Das oben schon mal erwähnte Spiel Spanien gegen Italien genauso wie das der Deutschen gegen Portugal und die Niederlande.

Entstanden ist der Blog vor gut zwei Jahren aus Frustration über das "Expertenunwesen", das nicht nur in Deutschland, sondern auch und vor allem in England grassiert, wo Fußballer wie Gary Lineker ähnlich wie Kaiser Franz jahrelang ungestört seine klischeebehafteten "Weisheiten" verbreiten durften. Sondern auch infolge des vor vier Jahren in England erschienenen Buches "Inverting the Pyramid. The History of Football Tactics" des englischen Fußballexperten Jonathan Wilson, das letztes Jahr pünktlich zum letztjährigen CL-Endspiel zwischen dem FC Barcelona und Manchester United im Londoner Wembleystadion endlich auch ins Deutsche übersetzt worden ist.

Informiert

In diesem Buch liefert Wilson nicht nur einen geschichtlichen Abriss der taktischen Fußballformationen und der großen Namen, die mit diesen "Revolutionen auf dem Rasen" verbunden sind. Er zeigt auch, wie sich das herkömmliche 2-3-5 System, mit dem beispielsweise ich noch aufgewachsen und fußballerisch sozialisiert worden bin, sich im Laufe der Jahre über ein 4-4-2, auch WM-System genannt, sich erst zu einem 4-3-3 in Holland und dann zu dem heute üblichen, von kleinen Varianten mal abgesehen, 4-2-3-1 oder (defensiver ausgerichtet) 4-3-2-1, auch Tannenbaumsystem, entwickelt hat.

Auf diese Weise kommen Namen und Adressen zu Ehren, die der heutige Fußballfan kaum mehr vom Hörensagen kennt. Der Engländer Jimmy Hogan etwa, dem Verkünder des Kurzpassspieles, sein Landsmann Herbert Chapman, der für Arsenal London einst den vertikalen Konterfußball entwickelte, der Österreicher Hugo Meisl, der das "Scheiberln", einen Vorläufer des Kombinationsfußballs, erfand, oder der Russe Viktor Maslow, der Raumdeckung und die Viererkette in den Fußball einführte.

Besser bekannt sein dürften hingegen Helenio Herrera, der Urheber des gefürchteten Catenaccios, Rinus Michels und Walerij Lobanowski, die unabhängig voneinander den "totalen Fußball" propagierten, oder Arrigo Sacchi, der beim AC Mailand das "Schattenspiel", mithin das Training ohne Ball und Gegner erprobte.

Falsche Neun

Wer mithin mehr am Fußball interessiert ist, an Viererkette und Raumdeckung, Ballorientierung und Positionsspiel, Ballbesitz- und Vollgaskonterfußball, als an Olli Kahns neuer Frisur und dessen Tweet-Versuche oder daran, was Mehmet Scholl wohl heute Abend anhaben wird, dem sei dieses Buch über die "Revolutionen auf dem Rasen" wärmstens ans Herz gelegt.

Dann versteht er vielleicht auch, warum der Spanier del Bosque Cesc Fabregas als "falsche Neun" auflaufen lässt oder Cristiano Ronaldo und Zlatan Ibrahimovic bei Real Madrid oder dem AC Mailand gut "funktionieren", nicht aber in der portugiesischen Seleccíon de fútbol oder in der schwedischen Auswahl.

Literatur: Jonathan Wilson: Revolutionen auf dem Rasen. Eine Geschichte der Fußballtaktik. Aus dem Englischen von Markus Montz, Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2011, 462 Seiten, 19,90 €