Rund 16 Millionen Deutsche "arm oder sozial ausgegrenzt"?

Ob man sich einen Urlaub leisten kann, alle zwei Tage eine vollwertige Mahlzeit und die Wohnung warm halten - das Statistische Bundesamt liefert Sozialindikatoren

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Eine Woche Urlaub konnten sich in den letzten drei Jahren, das jetzige nicht mitgerechnet, gleichbleibend etwa drei Viertel der deutschen Haushalte leisten, wobei aus diesen Daten des Bundesamtes für Statistik nicht hervorgeht, ob der Urlaub zuhause oder in einer angenehmen Klimazone verbracht wurde. Die Wohnung im Winter warm zu halten, schafften 2008, 2009 und 2010 auch etwa gleichbleibend rund 95% der bundesdeutschen Haushalte. Und in etwa 90 Prozent der Haushalte kam in diesem Zeitraum - mindestens - "jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit" auf den Tisch.

Schwierig wurde es bei den "unerwarteten Ausgaben". Diese aus eigenen Finanzmitteln zu bestreiten, schafften in den drei vergangenen Jahren ungefähr zwei Drittel der Haushalte. So manches Finanzbudget der privaten Haushalte kann leicht zusammenbrechen, da ist nicht viel Pufferzone, so der Eindruck aus den Daten. Dass beim Zurechtkommen mit unerwarteten Ausgaben nur 66% der Haushalte angeblich keine größeren Probleme hatten, fällt gegenüber den anderen Daten des Bundesamts auf.

Wird es zum "finanziellen Problem, unerwartete Ausgaben in einer bestimmten Höhe aus eigenen finanziellen Mitteln bestreiten zu können" und stellen weitere drei Punkte aus einem 9-Punkte-Katalog einen privaten Haushalt ebenfalls vor finanzielle Probleme - wie das angemessene Heizen der Wohnung, die rechtzeitige Mietzahlung bzw. die Begleichung von Strom, Wasser und Öl/Gasrechnungen o.ä., die Einnahme einer vollwertigen Mahlzeit mindestens jeden zweiten Tag, eine Woche Urlaub woanders, die Anschaffung einer Waschmaschine im Haushalt, eines PKWs, eines Farbfernsehgeräts oder eines Telefons (!) - dann sprechen die Statistiker, die das LEBEN IN EUROPA auf vergleichbare Indikatoren bringen wollen, von "erheblicher materielle Entbehrung".

Etwas mehr als 5 Prozent der deutschen Bevölkerung waren 2011 davon betroffen, meldete gestern das Bundesamt für Statistik.

Auch wenn manche der aufgezählten Kriterien für den Sozialindikator "erheblich materielle Entbehrung" nach der EU-Definition für EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions) etwas erstaunen (gibt es noch andere außer "Farbfernsehgeräte" und wäre denn nicht eigentlich auch ein PC wichtig?), so liefern die neun Punkte doch eine anschauliche Orientierung dessen, was den Statistikern als Grundlage diente, wie Entbehrung tatsächlich im Haushalt aussehen kann - wenn auch mit strittigen Kriterien: Wie wichtig ist ein PKW? Wäre die Mobilität, die für den Erwerb und Einkauf und anderes (Schulbesuch, Ärzte etc.) wichtig ist, nicht auch anders zu fassen? Wäre nicht jeden Tag eine vollwertige Mahlzeit wichtig? Wie ist es mit Zusatzkosten, die für Kinder aufzubringen sind, wenn sie an sozialen Ereignissen wie Geburtstagen teilnehmen wollen?

Im Detail weniger nachvollziehbar, anschaulich oder überprüfbar sind die rechnerischen Grundlagen beim umfassenderen sozialen Begriff, dem der "Armut oder sozialer Ausgrenzung". Dort liegt der Prozentsatz sehr viel höher und sorgt entsprechend für Schlagzeilen: 19,9 Prozent - ungefähr jeder Fünfte in Deutschland -, also rund 16 Millionen, gelten als "arm oder sozial ausgegrenzt". Allerdings umfasst "Armut oder soziale Ausgrenzung" auch mehrere Mengen. Dazu gerechnet werden nämlich alle diejenigen, die nach eigenen Angaben mindestens eins von drei Kriterien, außer "erhebliche materielle Entbehrung" noch "Armutsgefährdung" oder "sehr geringe Erwerbsbeteiligung", erfüllen - oder zwei oder alle drei. Dabei steht doch schon eins dieser Kriterien für eine schwierige materielle und soziale Lebenssituation.

"Armutsgefährdung" liegt vor, wenn einer Person nach Einbeziehung staatlicher Transferleistungen ein Einkommen von weniger als 60% des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung des Landes zur Verfügung steht. Von "sehr geringer Erwerbsbeteiligung" wird bei weniger als 20 Prozent der möglichen Erwerbstätigkeit gesprochen. Bei einem Haushalt mit zwei Personen im erwerbsfähigen Alter z.B. wäre die Berechnungsgrundlage 24 Monate als potenziell mögliche Erwerbsbeteiligung und weniger als 4,8 Monate wären dann eine "sehr geringe Erwerbsbeteiligung".

"Im Jahr 2011 setzte sich der Indikator (Armut oder soziale Ausgrenzung, Einf. d.A.) wie folgt zusammen: die Armutsgefährdungsquote lag bei 15,8 %, 5,3 % der Bevölkerung waren von erheblicher materieller Entbehrung betroffen, und 11,1 % der Personen lebten in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung."

Für die EU-Statistiker ist "Armut oder soziale Ausgrenzung" ein Sozialindikator, der messen soll, was Gegenstand unzähliger Debatten ist: Wie sozial die Sozialpolitik in den Ländern der Europäischen Union ist und wie sie sich im Laufe der Jahre entwickelt.

"Die Indikatoren sollen auf EU-Ebene den Erfolg der Mitgliedstaaten bei der Armutsbekämpfung messen und Hinweise auf erfolgreiche Strategien liefern." LEBEN IN EUROPA

Für das Jahr 2011 hat Destatis in Deutschland die Daten aus den anderen europäischen Ländern noch nicht veröffentlicht. Vor zwei Jahren sahen die deutschen Verhältnisse im europäischen Vergleich besser aus: "Armut und Einkommensungleichheit waren im Jahr 2009 – wie bereits in den Jahren zuvor – in Deutschland geringer ausgeprägt als in der Europäischen Union insgesamt."