Arbeitslosigkeit macht krank...

... und die Hartz-IV-Polemik von Westerwelle doktort an der Realität vorbei

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Das Bild der Arbeitslosen wird in politischen Diskussionen gerne so gehängt, dass es von Leistungsträgern umrahmt wird. Die künstlerisch beabsichtigte Wirkung ist hier am größten: "Es scheint in Deutschland nur noch Bezieher von Steuergeld zu geben, aber niemanden, der das alles erarbeitet." Der damit heraufbeschworene Kontrast zwischen Faulen und Fleißigen ist eine garantiert funktionierende Quelle, um Stimmung unter den "Rechtschaffenen" zu machen ( Westerwelles kleine Welt). Das könnte aber auch in die Hose gehen, denn einen "anstrengungslosen Wohlstand" genießen auch jene, die von ihrem Vermögen leben.

Was Außenminister Westerwelle derzeit innenpolitisch betreibt, ist Selbstbeweihräucherung eines Milieus, das bei Sätzen wie "Bei uns dagegen wird Leistung schon im Bildungssystem gering geschätzt" applaudiert. Es geht um die Wirklichkeit nur am Rande, wie dieser Satz exemplarisch zeigt, sondern es geht um das impulsgebende Abbild derselben: um Tendenz und um die Tugenden, die jetzt im Namen der geistig-politischen Wende aus dem Wetterhäuschen herausspazieren. Der Aufruf zur Generaldebatte von Westerwelle folgt einer politischen Rhetorik, die sich am selbstgerechten Selbstbild der Stammwähler und der FDP-Klientel orientiert.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Dass Leistung im Bildungssystem gleich an zweiter Stelle kommt - nach den guten Beziehungen -, wissen Lehrer, Schüler, Studenten nur zu gut und am besten die Professoren. Was die Arbeitslosen und ihr "gutes Leben" auf Kosten derjenigen, "die alles bezahlen", angeht, so informiert eine aktuelle Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) darüber, dass die "gesundheitlichen Folgen jahrelanger Arbeitslosigkeit größer sind als bislang angenommen".

Laut Studienautor Wilhelm Adamy berichten etwa 500.000 Langzeitarbeitslose von gesundheitlichen Einschränkungen. Das sei jeder fünfte bis sechste Erwerbslose. Im Vergleich zu den Beschäftigten würden Arbeitslose ihren Gesundheitszustand mehr als doppelt so häufig als mittelmäßig bis sehr schlecht bewerten.

Wer keinen Arbeitsplatz hat, agiert außerhalb des Systems von gesellschaftlicher Anerkennung. So wundert es nicht, dass Langzeitarbeitslose als besonders auffällig für psychische Störungen geschildert werden. Sie sollen bei den Arbeitslosen 4mal häufiger auftreten als bei pflichtversichert Beschäftigten. Mehr als jedem siebten Arbeitslosengeldempfänger würden inzwischen Psychopharmaka verordnet, heißt es. Berichtet wird zudem von Stoffwechselkrankheiten und Krebserkrankungen, die bei Arbeitslosen im Vergleich zu den Beschäftigten öfter gemeldet werden.

Dieses Bild der Arbeitslosigkeit ist in den Debatten über die Zukunft des Sozialstaates, die Westerwelle und FDP-Mitstreiter gerade vom Zaun brechen, mitzudenken. Der innenpolitische Furor, den der Außenminister derzeit an den Tag legt, lässt außer Bildungsferne, so etwa in den Äußerungen zur spätantiken Dekadenz, auch Realitätsferne befürchten. Die Furcht ist umso größer, wenn gesinnungsnahe Zeitungen, wie die Welt, für eine "tabulose Diskussion" plädieren. Übersetzt in die politische Praxis heißt das, dass Wirtschafts-und Finanzexperten bei "der anstehenden Hartz-Reform das Kommando haben" sollen und "nicht die Sozialpolitiker", denen es "auf keinen Fall" überlassen werden solle. Aber war denn nicht schon der namensgebende Hartz ein Wirtschaftsexperte und kein Sozialpolitiker?

Die neue HartzIV-Debatte, so zeigen das die Äußerungen von Westerwelle und seiner Verteidiger an, ist bar jeder neuen Erkenntnis über Bedingungen unter denen HartzIV-Empfänger leben und neuer Ideen und Gedanken darüber, was man der Arbeitslosigkeit entgegensetzen könnte. Es geht - zumindest bislang - nur um eine rhetorische Übermacht.

Die Leistungsträger wollen den meritokratischen Gedanken neu beleben, ohne zu beachten, dass dieser von der Wirklichkeit an ganz vielen Punkten konterkariert wird. Dass der soziale Aufstieg schon von Kindesbeinen an immer schwieriger wird, liegt eben unter anderem an der bevorzugten Klientel der FDP selbst, die jener Effizienz huldigt, die sich einstellt, wenn man unter sich bleibt.