Jugend "ohne Job, ohne Wohnung, ohne Pension und ohne Angst"

Proteste in Spanien jenseits der Gewerkschaften und der Parteien: Tausende wollen keine "Ware von Politikern und Bankern" mehr sein

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"Wählt sie nicht", war einer der zentralen Slogans, der am Sonntag auf spanischen Straßen skandiert wurde. Tausende Menschen haben auf Demonstrationen in mehr als 50 Städten die Bürger aufgefordert, den Parteien am kommenden Sonntag die Stimme zu verweigern, welche die Krise auf die einfache Bevölkerung abwälzen. Aufgerufen zu den Protesten hatte die Plattform Wirkliche Demokratie Jetzt.

Gegen die Parteiendiktatur

Sie fordert eine "moralische Revolution" und einen Kursschwenk in der Politik. Durchbrochen werden müsse die "Parteiendiktatur" der "PPSOE". Damit wird klar, dass sich der Protest von vielen Menschen gegen die beiden großen Parteien richtet, die sich stets an der Macht in Madrid abwechseln, wobei sie sich in der Praxis, auch was Korruption angeht, nicht sonderlich unterscheiden würden, so die Vorwürfe.

Beide Parten, Sozialisten (PSOE) und Konservative (PP), halten am Zentralstaatsmodell fest und stehen zur Monarchie, die vom Diktator eingesetzt wurde. So können zum Beispiel die Regionen in Spanien nicht einmal wie in Deutschland über den Bundesrat Einfluss auf die Politik in Madrid ausüben. Entsprechende Reformen wurden zwar von den Sozialisten (PSOE) versprochen, aber nie umgesetzt. Auch dabei unterscheidet sich die PSOE, in der Realität rechte Sozialdemokraten mit nationalistischem Einschlag, ebenfalls nicht sonderlich von der konservativen Volkspartei (PP).

Diese Partei müsste eigentlich als postfaschistisch bezeichnet werden, weil sich in ihr die Franquisten nach dem Ende der Diktatur gesammelt haben. Sie wurde von einem Minister der Diktatur gegründet (siehe Im Bett mit Franko) und hat sich bis heute vom Putsch der Generäle und der Diktatur nicht distanziert. Dass die PP sich populistisch in der Krise als Verteidiger sozialer Rechte aufspielt, nahmen ihr die Demonstranten nicht ab.

Es geht um wirkliche Veränderungen

Die neue Bewegung kritisiert die "Ansammlung der Macht in den Händen von wenigen, womit Ungleichheit, Spannung und Ungerechtigkeit erzeugt wird, die zur Gewalt führt, die wir ablehnen", heißt es im Manifest der Plattform Am "obsoleten und unnatürlichen ökonomischen System" bereicherten sich einige wenige, während es dem Rest nur "Armut und Verzicht" biete.

Dass es der Bewegung um wirkliche Veränderungen im spanischen Staat geht, zeigt auch, dass man den üblichen nationalistischen Blick ablehnt und den Aufruf ebenfalls in den Minderheitssprachen verfasst hat, womit auch Katalanen, Basken, Galicier ... anerkannt werden. Kritisiert wird, dass PPSOE die "Akkumulation von Kapital" über den "Wohlstand der Gesellschaft" stellt und dabei "Ressourcen verschwendet, den Planeten zerstört, Arbeitslosigkeit schafft und unglückliche Konsumenten" schaffe.

Mehr Menschen auf die Straße gebracht als die Gewerkschaften

Es zeigt sich, dass vor allem die Jugend im spanischen Staat beginnt aufzubegehren, die "ohne Job, ohne Wohnung, ohne Pension und ohne Angst" auf die Straßen gezogen ist. Die Demonstrationen, vor allem über die sozialen Netzwerke mobilisiert, haben deshalb mehr Menschen auf die Straßen gebracht, als die großen Gewerkschaften am 1. Mai.

Hier zeigt sich deutlich, dass immer weniger Menschen ‑ noch weniger die fünf Millionen Arbeitslosen, Rentner oder andere sozial ausgegrenzte - sich noch diesen Gewerkschaften vertreten fühlen, die vor allem eine Klientelpolitik für die Stammbelegschaften machen. Das hatte vor dem 1. Mai schon Juan Díez Nicolás, Soziologieprofessor an der Madrider Universität, festgestellt. In Spanien sind schon fast 50% aller jungen Menschen ohne Job und immer mehr Menschen verlieren ihre Wohnung, weil sie die Hypotheken nicht mehr bezahlen können.

Die spanischen Gewerkschaften, halten trotz härtester Einschnitte ins Sozialsystem, Lohn‑ und Rentenkürzungen weiter an der Sozialpartnerschaft fest. Gegen ihre Ankündigungen traten sie gegen die Anhebung des Rentenalters auf 67 nicht zum Generalstreik an, sondern nickten die Reform am runden Tisch ab (siehe Fast die Hälfte der Jugendlichen ohne Job). Ihre Proteste gegen die Arbeitsmarktreform, die den Kündigungsschutz praktisch beseitigte und Kündigungen noch staatlich subventioniert, wurden ausgesetzt. Dabei zeigt sich, dass damit, anders als Regierung und Unternehmen stets behaupten, keine neuen Jobs geschaffen werden.

Immer niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten, geringere Sozialleistungen

Zur größten Demonstration kam es am Sonntag in der Hauptstadt Madrid. Hier sprach der bekannte Politologe Carlos Taibo zu den Versammelten. Er klagte das laxe Vorgehen gegen Steuerparadiese an und wies darauf hin, dass die Sozialdemokraten mitten in der Krise die Vermögenssteuer gesenkt und gleichzeitig die Mehrwertsteuer erhöht haben. Beim Sparprogramm vor einem Jahr sollten 15 Milliarden eingespart werden, wobei allein das Auffangen einer Sparkasse dann 9 Milliarden Euro gekostet hat.

Weitere Institute folgten und die zweite Sparkassenreform wird sogar mindestens weitere 20 Milliarden kosten, werden Sozialleistungen geschliffen werden. Taibo wendete sich gegen die Berliner Sirenengesänge, die von der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit singe. Jeder wisse, was das bedeute:

"Für die Mehrheit immer niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten, geringere Sozialleistungen und eine allgemeine Prekarisierung."

Die Schwierigkeiten der Sozialisten; die Alternative Bildu

Angesichts einer Regierung, die gegen alle Wahlversprechen wie keine zuvor Einschnitte ins Sozialsystem vorgenommen hat, dürften die Aufrufe der PSOE, sie als das kleinere Übel am Sonntag zu wählen, bei vielen Menschen verhallen. Zu versuchen, Angst vor der PP zu schüren, gelingt nicht mehr, schließlich hätte die PP kaum schlimmer gewütet. Allerdings wären die Proteste deutlich stärker ausgefallen, wie gegen deren Beteiligung am Irak-Feldzug oder gegen deren Arbeitsmarktreform, die sie nach einem Generalstreik zurücknehmen musste. Was in Katalonien Ende 2010 geschah, wo die Sozialdemokraten die Region mit dem schlechtesten Ergebnis seit dem Ende der Diktatur 1975 verloren haben, wird sich an vielen Orten und Regionen wiederholen.

Dass PPSOE im Baskenland ohnehin erstmals gemeinsam als spanische Front regieren, weil sie zuvor gemeinsam die baskische Linke über Verbote ausgeschaltet haben, macht diese PSOE-Argumentation gegen die PP noch schwächer. So scheint es verwunderlich, dass sich an den Protesten der Plattform im Baskenland kaum jemand beteiligt hat. Das liegt daran, dass hier die Lage deutlich anders ist und am Sonntag erstmals wieder eine wählbare linke Alternative besteht, nachdem das Verbot der Linkskoalition Bildu (Sammeln) vom Verfassungsgericht kassiert wurde.

Hinter der Koalition stehen auch die baskischen Gewerkschaften, die sich gegen den Sozialpakt stellen, sich konsequent gegen die Einschnitte ins Sozialsystem wehren und dem Unmut schon in drei Generalstreiks eine kräftige Stimme gegeben haben. In den Städten und Regionen des Baskenlands dürfte Bildu am Sonntag bei den Kommunal- und Regionalwahlen für Überraschungen sorgen.