Stuttgart 21-Gegner wollen mit Volksbegehren Landtag auflösen

Ehemaliger Strafrichter an Innenminister Rech: "Einen derartigen Polizeieinsatz gegen friedliche Bürger kannte ich bislang nur durch Berichte aus China und anderen Diktaturen"

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Der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus droht mit einem Befriedungsangebot, das niemand abschlagen könne. Deeskalation ist seine Sache nicht, der Aufstand gegen Stuttgart21 ist sicher auch mit seiner Person verbunden, schließlich meint er, gute Politik bestehe aus Sturheit. Auch wenn nun taktisch bis März nichts mehr abgerissen werden und keine Bäume mehr gefällt werden sollen, womit man ein "Signal" setzen will, ist das durchsichtige Rhetorik, solange für ergebnisoffene Gespräche kein vorübergehender Baustopp geschieht.

Sicherheitshalber will die Regierung auch keinen Volksentscheid durchführen – angeblich sei er verfassungswidrig -, sondern lieber auf die Wahlen im März warten, in der Hoffnung, dass sich bis dahin die Protestbewegung tot gelaufen hat. Die Stuttgart21-Gegner wollen nun ein Volksbegehren einleiten, um den Landtag vorzeitig aufzulösen. Zur Einleitung eines Volksbegehrens wären nur 10.000 Stimmen notwendig. Die dürften derzeit nicht schwer zu sammeln sein.

Die Bilder von der Demonstration am letzten Donnerstag, bei der die Polizei aus immer noch nicht nachvollziehbaren Gründen mit massivem Einsatz von Wasserwerfern, Pfeffersprays und Schlagstöcken gegen zumindest in aller Regel friedliche Protestanten vorgegangen ist, haben dem Projekt und der Regierung vorerst den Boden unter den Füßen weggezogen. Bislang bleiben Regierung und Polizei der Ansicht, sie hätten nichts falsch gemacht, da dürften schwache "Signale" nicht viel bewirken.

Allerdings kommt nun Kritik auch von einer Seite, die schwerer wegzubügeln sein dürfte, als Vorwürfe von unmittelbar Beteiligten. Die Staatsanwaltschaft dürfte jedenfalls angesichts vieler Anzeigen von verletzten Demonstranten und Augenzeugen viel zu tun haben.

Ernsthaft dürfte die Anzeige des Rechtsanwalts Rolf Gutmann, Experte für Verwaltungsrecht, sein. Er stellte Strafanzeige gegen den Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf wegen Körperverletzung im Amt. Die Polizei hätte nicht eigenmächtig eine Versammlung auflösen dürfen, sondern hätte zuvor eine Genehmigung des zuständigen Amts für öffentliche Ordnung haben müssen. Wenn diese nicht eingeholt worden sei, würde sich der Polizeipräsident, so der Anwalt der Körperverletzung im Amt schuldig gemacht haben.

Und heikel für die Regierung könnte auch die Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Verantwortlichen im Wasserwerfer 1 werden, die Dieter Reicherter, bis vor einem Monat Vorsitzender einer Strafkammer am Landgericht Stuttgart, an Innenminister Rech schickte und zudem dies um Aufklärung bat. Er sei zum Opfer eines rechtswidrigen Angriffs durch den Wasserwerfer geworden. Reicherter schreibt, er sei nur zu der Demonstration gegangen, von der er im Radio hörte, um sich zu informieren. Er berichtet von friedlichen Demonstranten und dann von der Aufforderung der Polizei, die Straße zu räumen:

"Ich selbst hielt mich zu keiner Zeit auf dieser Straße auf, sondern stand ca. drei Meter daneben (vom Wasserwerfer aus gesehen links) auf der Wiese – wie viele andere Personen auch. Als die Straße nicht von allen Personen geräumt wurde, kam der Wasserwerfer und offenbar auch Pfefferspray gegen diese Personen zum Einsatz. Ich sah einige Verletzte, vor allem handelte es sich um Augenverletzungen und auch blutende Wunden. Es kam zum Glück weiterhin zu keinerlei Gewalt. Die auf der Straße befindlichen Personen versuchten nur, sich vor dem Wasserstrahl zu schützen.

Ohne jede Ankündigung wurde plötzlich der Wasserstrahl gegen die Personen auf der Wiese gerichtet. Es war keinerlei Aufforderung ergangen, diesen außerhalb der polizeilichen Absperrungen liegenden Bereich zu verlassen. Der Beschuss der Personen auf der Wiese wurde einige Zeit fortgesetzt, ohne dass erkennbar wurde, was damit eigentlich erreicht werden sollte (im Rücken der Menschenmenge befand sich der von zahlreichen Passanten benutze Weg Richtung Neckartor)."

Er selbst sei dann auch überraschend angegriffen worden, wobei er völlig durchnässt wurde, mitgeführte Gegenstände seien beschädigt worden. Weiter schreibt er:

"Nach einem heutigen Zeitungsbericht dienten die Wasserwerfer lediglich der Eigensicherung der Polizei, 'nicht um Straßen freizumachen'. Im Fernsehen und Rundfunk äußerten Sie und Polizeiführer gestern sinngemäß, man sei selbst schuld, wenn man vom Wasserwerfereinsatz betroffen sei. Der Einsatz sei mehrfach angekündigt worden. Man hätte daher rechtzeitig weggehen können. Da dies in meinem Fall nicht zutrifft, halte ich den Einsatz für rechtswidrig und erbitte Ihre fundierte juristische Stellungnahme sowie Bescheidung der Dienstaufsichtsbeschwerde."

Und bitter schließt der ehemalige Strafrichter den Brief:

"Gestatten Sie mir die Bemerkung, dass ich einen derartigen Polizeieinsatz gegen friedliche Bürger bislang nur durch Berichte aus China und anderen Diktaturen kannte."