Nur lax gegenüber Radikalen oder auch konspirativ?

In Tunesien gerät die islamistische Regierungspartei Ennahda immer mehr in Kritik

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An mehreren Orten in Tunesien kam es gestern zu teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Zentren der Konflikte waren die Hauptsstadt, Tunis, Gafsa im Zentrum des Landes, Siliana im Nordosten und Sfax, wo von Plünderungen und bewaffneten Banden und "Chaos" im Zentrum der Stadt berichtet wird.

Heute, am Tag der Beerdigung des ermordeten Oppositionspolitikers Chokri Belaïd, wird ist allenthalben von großen Spannungen die Rede; doch scheint die Situation auf den Straßen bislang nicht zu eskalieren. Etwa 5.000 Personen haben sich in einem Vorort der Hauptstadt dem Trauermarsch angeschlossen. Armeekräfte sind eingesetzt. Der Dachverband der Gewerkschaften hatte für heute einen Generalstreik ausgerufen.

Spannungen gibt es auch innerhalb der regierenden islamistischen Ennahda-Partei. Sie haben sich infolge des politischen Attentats verschärft, bzw. werden nun offensichtlicher. Der Bruder des ermordeten Politikers hatte schon kurze Zeit nach der Tat die Ennahda dafür mitverantwortlich gemacht. Seither stehen insbesondere die Ligen für den Schutz der Revolution (LPR) im Zentrum des Verdachts und vieler Vorwürfe. Manche bezeichnen sie gar als Milizen der Ennahda; bekannt und berüchtigt sind sie als Sturmtruppen, die Veranstaltungen sprengen oder mit Knüppeln auf ihnen unliebsame politische Gegner, meist aus dem linken oder gewerkschaftlichen Lager vorgehen.

Ihnen wird auch eine Beteiligung am ersten politische Mord in Tunesien seit Ben Ali vorgeworfen. Am 18. Oktober 2012 kam der Gewerkschafter Lotfi Nakdh unter gewaltsamen, bis heute nicht ganz geklärten Umständen ums Leben. Dass die "Bünde für den Schutz der Revolution" dabei eine Rolle spielten, gilt für viele als ausgemacht. Beweise stehen jedoch noch aus. Doch zeigte sich die Ennahda-Partei als eine Art Schutzpatron, der die Aufklärung eher behinderte, als forcierte. Wie vermutet wird, um Anhänger der Ennahda zu schützen. Was zu Fragen danach führt, in welchem Verhältnis die Ennahda zu gewaltbereiten Salafisten steht.

In den letzten beiden Tagen wurde sehr deutlich, dass es innerhalb die Partei verschiedene Strömungen gibt. So hatte der Premierminister Hamadi Jebali, hinter Rached Ghannouchi Nummer 2 in der Partei, die Auflösung der Regierung, sowie eine Umbildung mit neuen Personen, "Technokraten" ohne politischen Hintergrund, angekündigt. Dem wurde jedoch von anderen Parteigrößen widersprochen.

Dies wird als Zeichen eines Machtkampfes zwischen moderaten und "konservativen" Kräften innerhalb der Partei gewertet. Manche Kommentare sprechen sogar davon, dass die Ennahda vor der Implosion stehe. Gespalten ist auch die Anhängerschaft. Der Parteiführung wird in diesem Zusammenhang vorgeworfen, dass sie Teile ihrer radikalen Anhängerschaft, die mit Salafisten sympathisieren, zu sehr decke, was letztlich auch Gewaltaten ermögliche, die in einem solchen Klima der Duldung und Protektion leichteres Spiel haben. Zu dieser Laxheit kommt, dass man Gewaltpredigten in Moscheen keinen Riegel vorschob.

Dass Personen, die mit ihren politischen Ansichten gegen die moralischen, gesellschaftlichen Vorstellungen und die Praxis der islamistischen Partei öffentlich kein Hehl machen, schlimmen Bedrohungen ausgesetzt sind, wird seit dem Attentant auf Chokri Belaïd nun in mehreren Medien verstärkt öffentlich gemacht. Belaïd hatte wiederholtund sehr scharf die Ennahdapartei kritisiert, die er als Trägerin radikaler islamistischer Strömungen ausmachte; er hatte auch auf das Wirken der Ligen-Schlägertruppen, die politische Versammlungen zu sprengen versuchten, aufmerksam gemacht. Auch er erhielt Drohungen.