Verteidigungsfall Europa?

Das Eigene sichern, das Andere abwehren. Die echte Gefahr aber droht den Bürgern von innen

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In diesem Monat wird das Urteil gegen den norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik gesprochen. Am 22. Juli letzten Jahres tötete der selbsternannte "Tempelritter" christlichen Glaubens bei zwei Attentaten in Oslo und auf der Insel Utøja 77 Menschen kaltblütig, darunter viele Teenager.

Ob er dabei klar bei Sinnen war, wie er beteuert, oder ob er laut Gutachterbescheinigungen "unzurechnungsfähig" war, als er seine jungen Landsleute eiskalt abschlachtete, wird das Gericht entscheiden. Davon wird auch das Strafmaß abhängen, das die Richter fällen werden.

Vordenker

Unmittelbar nach der Tat wurde bekannt, dass er sein Verbrechen Jahre lang akribisch vorbereitet und geplant hat. Kurz vor den Anschlägen stellte er noch ein dickes Text-Kompendium ins Netz, in dem er die Motive seiner Tat zu erklären und zu rechtfertigen versucht ( 2083 – Eine Europäische Unabhängigkeitserklärung).

Mehrmals tauchte in dem eintausendfünfhundert Seiten starken Konvolut der Name "Fjordman" auf. Erst dadurch erfuhr eine breitere Öffentlichkeit überhaupt, dass unter diesem Pseudonym seit 2005 ein islamophober Blogger im Netz unterwegs ist.

Auf einschlägigen Seiten, wie etwa Gates of Vienna oder Jihadwatch warnte er Besucher und Leser solcher Portale immer wieder vor einer Kolonialisierung Europas durch den Islam sowie einem "Kulturmarxismus", der Moral und Abwehrbereitschaft der EU-Bürger schwäche.

Apocalypse Now

"Kulturmarxismus - auch Political Correctness genannt - und Islam haben dieselbe totalitäre Perspektive", behauptet er, in ihrer "Ablehnung der freien Diskussion" fänden sie zusammen. Gemeinsam führten sie, sollte ihnen nicht rechtzeitig Einhalt gewährt werden, zur "Zerstörung der europäischen Kultur". Mit Hunderten solcher Einträge oder Stellungnahmen hatte er sich in all den Jahren einen gewissen Starruhm in der islamophoben Szene erworben.

Offensichtlich auch bei Breivik, der ihn in seinem "Manifest" zum "Lieblingsautoren" erkor und ihn darum im Vorfeld auch mehrmals kontaktiert hatte, ohne anscheinend auf Resonanz bei dem Blogger zu stoßen. Fjordman sagt heute, er habe ihn intellektuell nicht für satisfaktionsfähig gehalten.

Das hinderte Breivik aber nicht daran, seitenweise aus den Blogs seines "politischen Vorbilds" abzukupfern, den dieser zum "Counterjihad", zur "Patchworkkultur" und zum bald bevorstehenden "Untergang Europas" verfasst hatte und den Worten Fjordmans Taten folgen zu lassen.

Brandbeschleuniger

Unter dem Druck der Medien, die den Blogger zum "intellektuellen Stichwortgeber" des Osloer Amokläufers hochschrieben, musste Fjordman das Geheimnis seiner Anonymität lüften. Drei Tage nach der Tat suchte er darum eine Polizeidienststelle auf und gab gegenüber der Behörde seine Identität preis.

Seitdem weiß alle Welt, dass es sich bei dem Blogger um den damals sechsunddreißigjährigen Peder Jensen aus Ålesund in Norwegen handelt, der um die Jahrtausendwende Arabistik und Medienwissenschaften in Bergen und Kairo studiert hatte, einen Master in Kultur und Technologie der Uni Oslo besitzt und seine Abschlussarbeit über Bloggen im Iran verfasst hat.

Nach glaubhafter Versicherung, Breivik persönlich weder gekannt noch jemals getroffen zu haben, und nach umfangreichen Untersuchungen der Polizei wurde er mittlerweile von jeglicher Mitwisser- oder gar Mittäterschaft freigesprochen. Danach versicherte Jensen öffentlich, sein Pseudonym aufzugeben und in den "digitalen Ruhestand" zu gehen.

Digital rastlos

Dieses Versprechen hielt aber nicht recht lange. Längst bloggt und funkt er sogar mit Bild und unter seinem bürgerlichen Namen auf denselben oder ähnlich gesinnten Plattformen, die sich Dolomitengeist oder Volksberichtshof nennen, den Schrecken eines "Eurabia" an die Wand malen und zum Endkampf gegen die "linken Hochverräter" blasen.

Erneut mokiert er sich über die "Heucheleien des Multikulturalismus", oder er beschwert sich darüber, dass Islamkritiker von Medien zu den "Nazis von heute" gemacht werden; er lästert über den "europäischen Preis der Einwanderung" oder sinniert laut über "genetischen Komponenten der Kultur".

Mittlerweile hat Peder Jensen auch ausführlich zum Breivik-Prozess Stellung genommen. Er äußerte sich zu den Umständen seiner Verwicklung und versuchte seine Rolle in dem Fall darzustellen. Da er aus Furcht, von den Massenmedien falsch zitiert zu werden, selbstredend nicht als Zeuge der Verteidigung vor Gericht aussagen wollte, nimmt er darin seine eigene Befragung vor.

Print muss sein

Auf den ersten Blick ist daher vielleicht nicht unbedingt verständlich, warum Angehörige der rechtsintellektuellen Szene, der Filmemacher Martin Lichtmesz und der Soziologe und Blogger Manfred Kleine-Hartlage zehn ausgewählte Texte des Norwegers in Buchform auf den Markt gebracht haben. Zumal Fjordmans Hassreden (Judith Butler) inzwischen von Sympathisanten flugs ins Deutsche übersetzt werden und das gesamte Arsenal seiner Kampfparolen im Netz abrufbar ist.

Offenbar ging es den Herausgebern aber auch einfach darum, den Diskurs vor der Praxis zu retten, die Ideologie und "geistiges Terrain", das Breivik mit dem Fanal "vermint" hatte, wieder freizuschaufeln. Breiviks Massenmord sei "die schlechteste PR-Aktion aller Zeiten" gewesen, heißt es. Damit habe er der Islamkritik den "größtmöglichen Schaden" zugefügt und der "Gegenseite eine massive Propagandasache in die Hand gegeben".

Dennoch scheint die Buchveröffentlichung in der rechten Szene nicht ganz unumstritten gewesen zu sein. Bekanntlich tut man sich dort traditionell und ideologisch nicht nur mit der neuentstandenen Konkurrenz am rechtskonservativen Rand schwer, sondern vor allem mit den israel- und amerikafreundlichen Grundtönen, die in der radikalen Islamkritik Fjordmans und anderer deutlich mitschwingen.

Ideologische Vorbehalte

Antisemitismus und Antiamerikanismus gehören normalerweise zur Grundausstattung jedes stramm politischen Rechten. Hinzu kommt, dass es mancher Gesinnungsgenosse wohl für besser hält, sich von allzu simpler Islamkritik abzugrenzen, um politisch nicht in einem Topf mit dieser Art dumpfer Kultur- und Globalisierungskritik geworfen zu werden. Darum hatte vor Jahresfrist auch ein prominenter "Rechtsaußen" des FAZ-Feuilletons unter viel öffentlichen Tamtam den alten Kameraden für immer ade gesagt ( Ein Gutmensch mehr).

Ohne Not, tönte es bald in einem Blog der Szene, begäben sich die Herausgeber in "kontaminiertes Gelände". Sie machten sich damit "die Hände schmutzig" und böten allen Gegnern "eine offene Flanke".

Politisch distanzieren

Was der Autor des Blogeintrags mit "schmutzig" und "offene Flanke" genau meint, darüber darf spekuliert werden. Vermutlich ging es einfach darum, sich von dem Massenmörder Breivik ideologisch zu distanzieren, besonders, nachdem die Medien die rechte Szene vermehrt unter Beobachtung gestellt und dabei erstaunliche Querverbindungen aufgezeigt hatten.

Wer sich wirklich der Mühe unterzieht, sich durch die in Islam-, Kultur- und Europakritik unterteilten Texte zu lesen (und ich gebe gern zu, dass ich häufig einfach weitergeblättert habe, weil die immer gleichen Parolen auf Dauer ermüdend wirken und langweilen), der dürfte ziemlich erstaunt sein über die propagandistischen Talente des Norwegers.

Immer wieder gelingt es ihm, die meist aus dem Netz zusammenklaubten Infos und Zitate, Statistiken und Berichte holzschnittartig so zu verschrauben, dass sie in sein vorab geschlossenes und ideologisch festgefügtes Weltbild passen, das von Verschwörungsfantasien zusammengehalten wird.

Die Botschaft, die am Ende herauskommt, ist jedenfalls stets dieselbe. Der politische Islam will Europa erobern. Der Jihad wird nicht mit Bomben, sondern mit "ethnischer Massenverdrängung" geführt. Dank linker Voreingenommenheit ihrer Mainstream-Medien und deren Verpflichtung zum Gutmenschentum sind die Europäer kaum noch in der Lage, sich gegen diese "bösartige Politik" aufzulehnen.

Klassenkampf von oben

"Toleranz" und "Multikulturalismus" seien Strategien der "herrschenden Eliten" des Westens, um ihren Machterhalt zu sichern. Darum sei nicht nur die Verteidigung des Eigenen Pflicht und der "Pivot" jeglichen Widerstands. Der Kulturkampf müsse überdies ergänzt werden vom "Kampf der Völker" gegen ihre "globalisierten Eliten" und dem von ihnen inszenierten "Klassenkampf von oben".

Überall auf der Welt trachteten die Völker danach, ihre Identität zu wahren. Nur in den Ländern des Westens führe "die Obrigkeit" einen "Kampf gegen die Mehrheitsbevölkerung". Gewalt, erst recht gegen "Unschuldige", sei aber die falsche Strategie. Um die "Dekadenz Europas", die ihren Grund in der "Säkularisierung, der christlichen Nächstenliebe und der Menschenrechte" besitze, zu stoppen, sei vielmehr eine geistige Revolution nötig.

Das Internet böte dafür entsprechende Mittel und Wege. In den Weiten des Netzes ließe sich das "Herrschaftssystem der Eliten" nicht mehr aufrechterhalten. Das Netz brächte eine neue "Gegenöffentlichkeit" hervor, die all jenen Stimmen und Ideen Gehör verschaffe, die vorher aufgrund der "Kontrolle des Systems etablierter Medien" nicht vernehmbar gewesen seien und einen "herrschaftsfreien Diskurs" verhindert hätten.

Entwendete Begrifflichkeit

Auffallend neben der vor Wut schäumenden Sprache ist vor allem die entwendete Terminologie. "Gegenöffentlichkeit" und "Herrschaftsfreiheit" und "Elitenherrschaft" und "Klassenkampf" sind genuin linke Kampfbegriffe. Sich zu empören, Widerstand gegen das System zu leisten und einer abgehobenen, transnationalen Elite den Garaus zu machen, kennt man von da. Und auch die Vorstellung einer geschwächten Gesellschaft, die sich längst aufgegeben hat, ist keine Unbekannte im traditionell linken Milieu.

Bei Zizek und Hardt/Negri findet man das. Und bei den Autoren des "Kommenden Aufstands" ( Postpubertäre Revolutionslyrik) erst recht. Erst jüngst hat sogar Oskar Negt in seinem "Gesellschaftsentwurf Europa" das Bild einer "kranken Gesellschaft" gemalt, "in der bewusste Politik ausgeschlossen ist, weil die Gesellschaft zum bloßen Anhängsel der wirtschaftlich Mächtigen und der Börsenkurse geworden ist".

Auch der Sozialdemokrat spricht von einer europäischen "Krise", von einem "Umbruch", in dem es "tödliche Entwicklungen geben kann", und auch von "Erneuerung", die das Gemeinwesen unbedingt brauche. Schließlich ermutigt auch er die Menschen, "sich zu empören und Forderungen zu stellen, die noch vor einem Jahrzehnt als verrückt gegolten hätten".

Einheit in der Differenz

Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen. Keinesfalls möchte ich den Gleichklang von linken und rechten Ideologien das Wort reden. In ihren Politstrategen und Feindbestimmungen mögen sie sich ähneln. Inhaltlich und konzeptuell unterscheiden sie sich jedoch erheblich.

Machen die einen die Kultur für alles Schlimme in der Welt verantwortlich, sind es bei den anderen stets die ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse; halten die einen den Menschen für ein Tier, das der Zähmung bedarf, betrachten die anderen genau das für das eigentliche Übel; betonen die einen die Unterschiede, legen die anderen Wert auf die Gleichheit aller; fürchten die einen den Verlust ihrer Identität, wollen die anderen sie am besten loswerden; sind es für die einen meinungsschwache Politiker, die dem Volk "die Wahrheit" verweigern, sind es für die anderen gewissenlose Banker, die Staat und Volk ins Unglück stürzen; verlangen die einen die Auflösung der Europäischen Union, reden die anderen einer Vertiefung das Wort.

Ähnlich verhält es sich mit den Rezepten, die Heilung bringen sollen, sowie den politischen Wunsch- oder Zielvorstellungen, die sie haben. Glauben die einen, durch eine rigidere Ausweisungspolitik eine bessere Welt ohne Kriminalität zu schaffen, wollen die anderen das durch die Einführung von Grundeinkommen und Verteilung sozialer Wohltaten an alle Bedürftigen erreichen; erwarten sich die einen die Lösung aller Probleme durch eine Renationalisierung der Politik, glauben die anderen, dass das erst erreicht wird, wenn alle Menschen Brüder (und Schwestern) werden und sich gegenseitig zum Ringeltanz auffordern.

Gegenrechnungen

So könnte man munter weiter unterscheiden (ich vereinfache gewiss maßlos), auch das eine gegen das andere auf- oder gegenrechnen: das Rigide gegen das Lasche, das Geschlossene gegen das Offene, das Einheitliche gegen das Differente, das Lokale gegen das Globale usw., recht viel schlauer und klüger wäre man hinterher sicher auch nicht.

Die Krise der Arbeit oder des Euro, des Staates oder der Kultur usw., die allseits und allerorten beklagt wird, ist freilich etwas komplexer, komplizierter und reicht weit tiefer, als dass sie mit Holzhammerparolen wie: Banken verstaatlichen, Kapitalismus abschaffen, sozial umverteilen, oder: Identität verteidigen, Eliten austauschen und Einwanderung stoppen, zu bewältigen wäre.

Nichts geht mehr

Krise, vom gr. krinein kommend, bedeutet soviel wie "trennen" oder "scheiden", aber auch "unterscheiden" und "urteilen" und zwingt zum "Entscheiden". Im Chinesischen tritt noch das Wort "Chance" hinzu. Eine Krise setzt mithin eine Trennung vom Überlieferten, Gewohnten und Althergebrachten voraus ( Abschied nehmen - was sonst), eher man sich für etwas Anderes, eventuell Neues entscheiden kann und vielleicht auch muss.

Krise, gleich ob individuelle oder gemeinsame, bedeutet, dass es fortan nicht mehr so weitergehen kann wie bisher, das Sich-Durchwursteln muss ein Ende haben. Nur wenn man zu Innovationen fähig und bereit ist, auch lieb gewordene Verhaltens- und Lebensweisen über Bord zu werfen, sind Änderungen und Neuanfänge möglich.

Tatsächlich leben wir, spätestens seit Ende der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts, in einer Zeit des "Übergangs" ( Im Übergang begriffen - aber wohin?) und "Umbruchs". Wer wollte das leugnen. Soeben hat Meinhard Miegel dem FAZ-Redakteur diese Banalität nochmals ins Mikrofon diktiert.

"Das System ist am Ende, das Leben geht weiter", so der Ökonom kurz und prägnant. "Was wir gegenwärtig erleben, ist mehr als das, es ist eine dauerhaft veränderte Wirklichkeit." Wie die aussehen wird, darüber darf freilich trefflich gerätselt und spekuliert werden. Was auch geschieht.

Politische Ideologen nutzen solche Zeiten gern, um ihr Süppchen zu kommen. Sie versprechen den ängstlichen und schwer verunsicherten Bürgern rasche Abhilfe. Differenzierte Stimmen haben es da stets schwer, weil sie schnell in die eine oder andere Ecke abgedrängt werden. Mit Kultur- und Klassenkämpfen wird man dem Neuen aber nicht näher kommen, geschweige denn ihr auf die Sprünge zu helfen.