Pop ist tot, es lebe der Sound

Längst ist auch die Poptheorie in der Nachgeschichte angekommen, nur: die Popkritik will das nicht wahrhaben

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Was ist Pop? Ist Pop Ausdruck einer Kultur des Oberflächlichen und Massentauglichen? Ist Pop Teil oder sogar Zentrum einer antikapitalistischen Gegenbewegung, die Kritik am Konsumismus, an Massenprodukten und am Establishment leistet und als Sprachrohr für unterdrückte Individuen, Ethnien und Minderheiten dient? Oder ist Pop einfach nur Resultat eines Selbstverständigungsprozesses, der von einer eigentümlichen Sorte von Theoretikern und Kritikern untereinander und über angeschlossene Medien geführt wird und vor allem eins bewirkt, die Schaffung eines eigenen Sinn- und Sprachkosmos?

Archivforschung

Vor zwei Jahren hat der Bochumer Germanist Thomas Hecken darauf eine Antwort versucht. Auf über fünfhundertfünfzig eng bedruckten Seiten erzählt er die Geschichte des Pop, dessen Anfänge er auf das Jahr 1955 datiert, noch einmal nach. Trotz unzähliger Manifeste und Streitschriften, Selbstzeugnisse und Bekenntnisse, die er untersucht und deren Protagonisten er auch ausführlich zu Wort kommen lässt, ist man hinterher, was all diese Fragen betrifft, nicht unbedingt klüger. Zum Beispiel weiß man immer noch nicht, ob Pop tatsächlich ein Konzept zur Verbesserung der Welt und des Menschengeschlechts liefert oder ob es sich doch nur um Gesten, Haltungen und Selbststilisierungen handelt, um Kunstprodukte und virales Marketing, das den Kids vornehmlich Geld aus den Taschen ziehen will.

Immerhin wird nach der Lektüre deutlich, dass Pop kein gänzlich neues Phänomen ist. So lassen sich bereits Baudelaires "l'art pour l'art" und Marinettis futuristisches "Lob des Maschinellen" als popkulturelle Effekte wider Schillers klassischen Versuch einer Ästhetisierung des Bürgerlichen deuten. Später, in Andy Warhols dekompositorischen Verfahren der Verfremdung und Leslie A. Fiedlers Feier des Hedonismus, aber auch in den selbstzerstörerischen Attitüden, die Punk und Post-Punk inszenieren, erfährt der hundertjährige Angriff auf das bürgerliche Leben, seine Kunst und seine Werte noch einmal seine dissidente Fortsetzung und seinen krönenden Abschluss, woran auch das Aufkommen von HipHop und Techno nur noch wenig ändern kann.

Nachgeschichte

Von solch symbolischen Ausdrucks- und Widerstandsformen scheint der Pop mittlerweile meilenweit entfernt. Auch Pop ist dem posthistorischen "Kältetod" erlegen. Im "starren" und "kristallinen" Zustand, den die Geschichte ausstrahlt, ist der Evolutionismus, den Pop lange Zeit erfolgreich praktiziert und vor allem simuliert hat, verloren gegangen: Es geht nicht mehr um musikalische Innovationen oder lineare Entwicklungslinien.

Antikünstlerische Formen findet man höchstens noch im so genannten "Mashup", im Remixen, Sampeln und Recyclen von Texten, Bildern und Soundfiles. Möglich wird diese Feier der Kopie und des Plagiats durch eine Kultur des Digitalen, die selbst so ganz neu und unbekannt wiederum nicht ist. In gewisser Weise lassen die neuen Medien die ebenso altbekannte wie altbewährte Technik des Bootlegs, Bootleggings oder Bastard-Pops wiederaufleben.

Auch deswegen verdankt sich die neuerdings von Poptheoretikern in England und darauf auch in Zentraleuropa erhobenen Klagen, der Pop der Gegenwart bringe nichts mehr wirklich Neues hervor, sondern erschöpfe sich im Ausschlachten der Vergangenheit, einem Selbstmissverständnis, das vermutlich mehr mit der Selbstfindung der ihrer Deutungshoheit solcher Art beraubten Personen zu tun hat, und das bei manchen vielleicht sogar im Selbstbetrug geendet hat.

Kommentarfunktion

Pop hat, soweit ich das zu überblicken vermag, nämlich nie vollkommen Neues aus sich selbst heraus geschöpft. Schon immer haben Pop-Künstler die Musik ihrer Väter und Großväter genau studiert und sich deren Stile: Jazz, Blues oder Rock'n'Roll zu Eigen gemacht ( Bob, Bob, Bob) So gesehen hat sich Pop nicht von anderen künstlerischen Avantgarden und ihren Ausdrucks-, Stil- und Kommunikationsformen unterschieden. Auch Mode, Film und Architektur haben immer schon am Vorhandenen, Bewährten und Überlieferten angeknüpft, sie haben sich die Vergangenheit zunutze gemacht, um sie dann in ihren Sinne neu zu interpretieren. Und nichts anderes machen auch die jungen Bands aus Brighton, Leeds oder Sheffield, sie hören die Musik der Alten und fügen ihr ihren neuen Kommentar hinzu.

Mit der Wucht technischer Innovationen, dem Entstehen neuer Plattformen, Speicherplätzen und Vertriebswegen oder gar der Krise der kapitalistischen Ökonomie hat die Verdichtung der Musikzyklen und Musikstile, wie Simon Reynolds ( Musik ist die entscheidende Kunstform) das in seinem Buch "Retromania" an unzähligen Beispielen durchaus überzeugend nachweist, zunächst mal nur am Rande zu tun. Zumal es wenig plausibel erscheint, warum ausgerechnet Internet und iPod, You Tube und Spotify, last.fm oder tape.tv den Niedergang des musikalisch Originellen und Kreativen forciert haben und Innovationen verhindert haben sollen.

Möglichkeitsräume

Vielmehr haben einige dieser neuen Plattformen genau das Gegenteil bewirkt. Sie haben Talenten, die von der Industrie großzügig übersehen wurden und möglicherweise niemals das Licht einer breiteren Öffentlichkeit gefunden hätten, neue Kanäle und Distributionswege zum Konsumenten und Hörer eröffnet. Zugleich haben sie die Freude und Lust am Hören und Genießen von Musik extrem vergrößert und gefördert, den Zugang dazu erleichtert und obendrein auch zu einer größeren Ausdifferenzierung von Formen, Stilen und Genres geführt ( Wie der Pop zersplittert).

Vor allem dadurch ist Musik so präsent wie niemals zuvor, sie ist für jedermann sofort erreichbar und verfügbar geworden. Zu jeder Tages- und Nachtzeit und an jedem Ort dieser Welt kann der Musikliebhaber dieser genussreichen Tätigkeit nachgehen, vor dem Bildschirm, beim Staubsaugen und Fittmachen genauso wie am Skihang, in der U-Bahn oder beim Bergsteigen. Die Älteren werden sich sicher noch erinnern, wie viel Zeit und Mühe der Kauf, das Mitschneiden oder Überspielen von Musikstücken auf Magnetbänder bereitet hat – ganz abgesehen von dem miesen Sound, der von Kurzwelle, Kompaktanlage oder Revox-Tonbändern wiedergegeben wurde.

Entmachtung

Schließlich haben die neuen Medien, vor allem durch die Schnelligkeit, mit der heute Meldungen und Musik um den Erdball transferiert wird, auch zu einer weitgehenden Entmachtung der selbst ernannten Popexperten geführt ( Das Ende der Bescheidwisser). Pop-Veteranen wie Diedrich Diederichsen ( Stirb langsam) oder Dietmar Dath haben ihre Deutungshoheit verloren.

Um ihren Status in der Szene einigermaßen aufrecht zu erhalten, müssen sie seitdem entweder auf den Film, die Literatur oder die Kunstmalerei ausweichen. Besonders auch auf diesem Feld haben sich die Gewichte gewaltig verschoben. Die Kommunikations- und Distributionswege verlaufen nun direkt, ohne den Senf vermeintlicher Durchblicker, Besser- und Bescheidwisser, vom Künstler zum Hörer oder vom Hörer zum Hörer.

Endlich kann der Hörer ganz seinen eigenen Geschmäckern, Vorlieben und Präferenzen folgen. Er kann die ganze Bandbreite des Pop nutzen und seinen Sound zeitgleich genießen, Indie und ProgRock, HipHop und Synthie, R & B und SurfBeat, Stadion-Rock und Minimal-Punk usw., ohne dass er sich den Hör- und Musikgenuss von irgendeinem Popfuzzi madig machen lassen muss. Gerade die "Aufschreibesysteme", die von einer ganzen Reihe von Leuten verteufelt werden und für den Niedergang des Pop und seiner vermeintlich gesellschaftsverändernden Ansprüche verantwortlich gemacht werden, machen das möglich.

Nacharbeiten

Gewiss mag es verwundern, wenn Primal Scream, die noch vor Jahren durch halbleere Clubhallen touren mussten, dieses Jahr für die Wiederaufführung von "Screamadelica" gefeiert werden; es mag auch verwundern, wenn die Reunion der Stone Roses bejubelt und ihre Konzerte im Sommer nächsten Jahres binnen Minuten ausverkauft waren, obwohl noch vor zwei Jahren Ian Brown, der Sänger der Alt-Raver, gerade mal hundert Leute ins Münchner Backstage-Werk lockte.

Und es mag schließlich auch verwundern, wenn Vinyl und Plattenspieler wieder fröhliche Urstände feiern und Luxusausgaben und Re-Issues, wie sie derzeit etwa von Pink Floyd oder The Smiths angeboten werden, trotz knapper Kassen einfach so über den Ladentisch wandern und obendrein noch die Charts und Billboards verstopfen. Zumal es vor Jahren noch gänzlich unmöglich war, sich mit Jugendlichen etwa gemeinsam eine DVD mit den langmähnigen Led Zeppelin anzuschauen, ohne Langeweile zu erzeugen und Lachanfälle zu riskieren.

Schürfarbeit

Ob diese neue Vergangenheitsfixiertheit etwas mit der allseits festgestellten Lust nach der guten alten Zeit zu tun hat, mit der Erwartungs- und allgemeinen Hoffnungslosigkeit, mit der heute auf und in die Zukunft geblickt wird, sei mal dahingestellt. Möglicherweise verhält es sich ja viel banaler, als all die hochfliegenden Popdiskurse sich das ausmalen wollen.

Vielleicht hat es einfach damit zu tun, dass die Jungen mit der Musik ihrer Eltern aufgewachsen sind, der Sound ihrer Väter sie anturnt und sie die musikalische Sozialisation ihrer Eltern noch einmal nachstellen wollen. Vielleicht sind sie aber auch bloß neugierig darauf, wie das damals geklungen hat, als Primal Scream und die Stones Roses zu ihren Raves luden, wie The Cure und Depeche Mode zum Depro-Sound fanden oder warum Nirvanas grungende Gitarren so viel Aufmerksamkeit zu teil wurde. Und vielleicht sind die Alten einfach jung geblieben. Wer regelmäßig zu Punk- und Rockkonzerten geht, wird wissen, wie groß die Bandbreite des Publikum ist, das zu Zoot Woman, zu The Gaslight Anthem oder zu Chk Chk Chk das Tanzbein schwingt.

In der klassischen Musik und in der Oper ist das seit Hunderten von Jahren gang und gäbe. Niemand wundert sich dort, warum Bachs Orgelkonzerte oder Mozarts Zauberflöte, Mahlers achte Symphonie oder Wagners Nibelungen-Saga immer wieder aufgeführt, neu interpretiert und inszeniert werden. Und niemand kommt dort auch auf die Idee, das Interesse am alten Bestand mit drohenden oder vermeintlichen gesellschaftlichen Umkehrtrends in Verbindung zu bringen.

Sounderlebnis

Ich, als exzessiver Hörer und kurzweiliger Kolumnist, habe mit all dem (und ich denke, da bin nicht völlig allein) kein Problem. Weder frage ich nach dem Nutzen von Musik und Stilen, von Gesten und Symbolen, noch schneie ich irgendwo kurz rein, langweile mich dort und suche dann gleich wieder das Weite, wie der Kritiker der SZ neulich in Anlehnung an den Wirtschaftsjournalisten David Lyons über den heutigen Musikkonsumenten gemutmaßt hat.

Vielmehr höre und genieße ich all das, was mir gefällt und gerade so unter die Finger kommt, die nostalgischen Klänge einer Lana del Rey genauso wie den überdimensional aufgepumpte Pop von Florence and the Machine, den körperbetonten Brachial-Marsch von Rammstein genauso wie das breit gefächerte Programm, das Kasabian anbietet, die coole Lakonie der Mädchenband Boy genauso wie den von Kritikern regelmäßig heruntergeputzten Perfekt-Rock von Coldplay.

Ob die Subways so klingen wie die Ramones, The Rapture wie die Talking Heads oder The Airborne Toxic Event wie Arcade Fire, ob die schnöseligen Jungspunde von The Computers The Hives kopieren, die Kaiser Chiefs die Bierzeltatmosphäre in den Club tragen oder ob Hard-Fi und die Wombats den Rock elektronifizieren - all das ist so lange belanglos, wie der Sound stimmt, in Kopf, Arme und Beine fährt, den Körper zu Schweiß treibenden Bewegungen zwingt und der Funken der Beats aufs Publikum überspringt.

Wer in den letzten Wochen auf einigen Konzerten der oben genannten Bands gewesen ist, der wird dem Gemaule und Gejammer der Poptheoretiker und Popkritiker über mangelnde Innovationskraft, Originalität und Kreativität nur ein mitleidiges Lächeln abgewinnen. Dass die jungen Bands der Musik der Alten nichts mehr hinzufügen, stimmt so jedenfalls nicht. Das Neue ist vielleicht nicht mehr kreativ und originell, neu ist eher die Art und Weise, wie das Tradierte aufgenommen, verarbeitet und übertragen wird.

Literatur zum Thema:

Dirk van Gehlen, Mashup. Lob der Kopie, Suhrkamp: Frankfurt 2011, 232 S, 15 €

Thomas Hecken, Pop. Geschichte eines Konzepts 1955 - 2009, Bielefeld: transcript 2009, 564 S, 35, 80 €

Simon Reynolds, Retromania - Pop Culture's Addiction To Its Own Past, London: Faber and Faber 2011, 465 S, 19,95 €