Müssen nun auch EU- und Nato-Strategien verändert werden?

Das Votum für Militäraktivitäten zur Wahrung nationaler Wirtschaftsinteressen bleibt nicht folgenlos

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Nach einem Interview mit Deutschlandradio Kultur vom 22. Mai war dem Bundespräsidenten Horst Köhler öffentlich vorgeworfen worden, er habe grundgesetzwidrigen Militäreinsätzen der Bundeswehr zur Sicherung nationaler Wirtschaftsinteressen das Wort geredet. Nun ist er deshalb von seinem Amt als Staatsoberhaupt zurückgetreten. Die Vorwürfe, so Köhler, seien eine Unterstellung und entbehrten jeder Rechtfertigung. Sie zeugten jedoch von einem mangelnden Respekt für das Amt. So wäre dann also eine Missachtung des Amtes aus seiner Sicht der eigentliche Rücktrittsgrund.

Da das umstrittene Interview in Text und Ton zugänglich ist, dürften die als Reaktion auf öffentliche Proteste nachgelieferten Beschönigungen aus dem Bundespräsidialamt allerdings kaum zu halten sein (zumal in einer strafrechtlichen Überprüfung). Wörtlich hatte Horst Köhler bekundet, "dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren - zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch negativ auf unsere Chancen zurückschlagen, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern". Mit Blick auf mögliche weitere Todesopfer in der Bundeswehr hatte er sogar noch eigens betont: "Man muss auch um diesen Preis sozusagen seine am Ende Interessen wahren. Mir fällt das schwer, das so zu sagen. Aber ich halte es für unvermeidlich, dass wir dieser Realität ins Auge blicken."

Köhlers Einschätzung, die Gesellschaft teile zunehmend in der Breite solche Anschauungen, hat sich nun nicht bestätigt. Rücktrittsforderungen waren nach diesem Interview in den letzten Tagen auch im Gästebuch der Website des Bundespräsidenten nachzulesen. Die IPPNW (Ärzte gegen den Atomkrieg), deren Mitglied Dr. Amit Mortasawi eine Strafanzeige gegen das Staatsoberhaupt erstattet hatte, teilte in einer Presseerklärung zu den offiziellen Rechtfertigungsversuchen mit:

"Spektakulärer als die Originaläußerung Köhlers ist […] die 'Klarstellung' des Bundespräsidialamtes, Afghanistan sei bei dieser Ausführung gar nicht gemeint gewesen. Das bedeutet im Kern die Bekräftigung der Aussage, der Einsatz militärischer Gewalt zur Verfolgung wirtschaftlicher Interessen sei in bestimmten Fällen grundsätzlich notwendig und zulässig."

Da die Wahrung des Friedens und die Achtung des Völkerrechts zu den tragenden Grundpfeilern unserer Verfassung gehören, erfolgt der Rücktritt Horst Köhlers vom Amt des Bundespräsidenten zu Recht. Er ist ein Hoffnungszeichen für alle, die die fortschreitende Aushöhlung des Grundgesetzes durch die Remilitarisierung der bundesdeutschen Außenpolitik seit den 1990er Jahren mit großer Sorge verfolgen.

Indessen sind nun nach diesem Rücktritt auch die einschlägigen Militärdoktrinen und Programme – darunter Dokumente von NATO und EU, das geltende Bundeswehr-Weißbuch (2006) und der im Mai 2008 von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgelegte Entwurf einer "Sicherheitsstrategie für Deutschland" – hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit unserer Verfassung erneut unter die Lupe zu nehmen. Denn was Horst Köhler offen ausgesprochen hat, ist seit langem Teil westlicher Militärstrategien, über die öffentlich nur in wenigen Medien kritisch debattiert wird.