Medizinische Dissertationen unter Beschuss

Nach der Entscheidung, einer Ärztin trotz 75 Prozent Plagiatanteils in ihrer Dissertation den Doktortitel nicht abzuerkennen, wird die Forderung laut, den Dr.-med.-Titel auf Wissenschaftler zu beschränken

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Medizinische Dissertationen werden in sehr vielen Fällen mit deutlich weniger Aufwand hergestellt als solche in anderen Fächern. Das liegt vor allem daran, dass Patienten beim Arztbesuch traditionell erwarten, einen "Herrn Doktor" zu sprechen, weshalb in diesem Fach ein weitaus größerer Teil der Absolventen promoviert als in anderen. So stellten 2010 die Mediziner 3,6 Prozent der Studenten in Deutschland, aber 28 Prozent der Dissertationen.

Diese Vermassung trug dazu bei, dass die Ansprüche an eine Doktorarbeit im Fach Medizin häufig deutlich niedriger angesetzt werden als in anderen Disziplinen. Wo sonst ein Minimum von 200 Seiten gefordert wird, da sind Studenten und Professoren froh, wenn sie sich nicht durch mehr als 50 Seiten blättern müssen. Und diese 50 Seiten bestehen häufig aus nicht sehr viel mehr als abgelesenen Daten aus einer Versuchsreihe, die man durch ein Statistikprogramm gejagt hat. Aufgrund dieser Anspruchslosigkeit fragen sich viele Medizinstudenten, ob es nicht – ähnlich wie für den Sportjournalismus – eine Software gibt, die Zahlen aus Ergebnistabellen entnimmt und daraus ohne menschliches Zutun die immergleichen Standardsätze zaubert.

Eine Oberärztin aus Mainz wartete für Ihre 2002 eingereichte und 2006 verteidigte Doktorarbeit nicht auf so ein Programm, sondern nahm einfach große Teile älterer Arbeiten als Textbausteine, in den sie ihre eigenen Ergebnisse einfügte. Dem Crowd-Korrektur-Portal VroniPlag zufolge sind deshalb mehr als drei Viertel ihrer Dissertation als Plagiat einzustufen. Für die Universität Heidelberg, die die Arbeit angenommen hatte, reicht dieser Fehler in der "Zitierweise" jedoch nicht aus, um der Frau die Doktorwürde zu entziehen oder die Note zu verschlechtern. Dass sich ausgerechnet Heidelberg als Elite-Universität bezeichnen darf, illustriert einem mit dem Fall vertrauten Hochschullehrer zufolge die "Inhaltsleere des Elite-Konzepts".

Die "bizarre Entscheidung" der Heidelberger Universität nimmt die Berliner Professorin Debora Weber-Wulff, die sich wissenschaftlich mit Plagiatsfragen beschäftigt, in ihrem Blog zum Anlass, die Einführung des aus den USA bekannten MD-Abschlusses für Normalmediziner zu fordern, durch den der Dr. med. auf echte Wissenschaftler beschränkt werden könnte. Bei denen nimmt heute ob des weitgehend entwerteten Titels die Habilitation die Stelle der Dissertation ein. Der Wissenschaftsrat hatte bereits 2009 festgestellt, dass medizinische Dissertationen eher Diplomarbeiten aus anderen Fächern entsprechen und von Pro-Forma-Forschung gekennzeichnet sind, die kaum Erkenntnisgewinn bringt.