Deutsche Machtvergessenheit?

Wieder mal attackiert Karl-Heinz Bohrer die Provinzialität der Politik und der politischen Klasse hierzulande

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In Deutschland gibt es kein ästhetisches Bewusstsein für Macht und Politik. In unzähligen, politisch meist unerhörten Artikeln und Essays hat Karl-Heinz Bohrer, einer der streitbarsten Zeitgenossen überhaupt, das bedauert. Mit wiederkehrender Regelmäßigkeit hat er das kleinteilige Denken erst der Bonner, später auch der Berliner Republik attackiert. Seine Notizen zum "deutschen Provinzialismus", die er jahrelang im Merkur, dessen Herausgeber er über ein Vierteljahrhundert war, publiziert hat, sind diesbezüglich legendär.

Allein gehört oder gar erhört hat ihn, der sich ganz dem Metropolitanen, Weltläufigen und Aristokratischen verpflichtet fühlt, kaum jemand, im Kanzleramt nicht und auch im intellektuellen Milieu nicht. Bedauert wird der fast Siebzigjährige das vielleicht haben. Ob ihn das gestört hat, wissen wir nicht. Auch nicht, ob er sich geärgert hat, als man ihm in der Süddeutschen Zeitung vorwarf, auf "gehobenen Stammtisch-Niveau" zu argumentieren und selbst einen "Anstrich von Provinzialität" zu verbreiten.

Weltunerfahren

Denn soeben hat er erneut zur Feder gegriffen und die "strukturelle" Machtvergessenheit ( Projekt Kleinstaat) der Politik in Berlin, einschließlich der "Mehrheit der Bevölkerung" und "der universitären Intelligenz" angeprangert. Den politischen Strukturwandel, den das Land seit dem Ende der bipolaren Welt erlebt habe, hätten viele "mental" immer noch nicht verarbeitet.

Obwohl das Land wirtschaftlich wie technologisch zum mächtigsten Staat Europas aufgestiegen sei, herrsche hierzulande immer noch eine politische Wald- und Wiesenwohlfühlromantik. Sichtbarster Ausdruck der Sehnsucht nach dem "Kleinidyll" sei der unsinnige Streit um einen Bahnhof, der überstürzte Atomausstieg, sowie die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat, womit sich das Land auf die Seite autokratischer Staaten geschlagen habe ( Bombenteppiche für Gaddafi).

Die Ursache für diesen latenten Kleinmut der Deutschen lokalisiert Bohrer in deren "Macht- und Weltunerfahrenheit". Zur Machtausübung gehörten "Weltläufigkeit", "Tradition", und auch eine gewisse "koloniale Erfahrung". Nichts davon habe Deutschland aufzuweisen. Stattdessen unterwerfe es sich lieber einem "abstrakten Moralismus". Macht anzuwenden könne man sich seit WK I und WK II immer nur als "brutale Exekution" vorstellen.

Während die Briten in der Vergangenheit immerhin versucht hätten, ihre Weltherrschaft auch mit den "Prinzipien des Rechts und der humanen Sitte" zu verbinden, wäre die kurze Zeit, die die Deutschen mit dem Kolonialismus zubrachten, katastrophal verlaufen. Als man anderen europäischen Staaten kurzeitig auf diesem Feld Paroli bieten wollte, habe man, vom Rassismus beseelt, unter den "Hereros" ein blutiges Massaker angerichtet.

Machtbewusst

Das kann man so sehen. Freilich könnte man auch argumentieren, dass gerade diese negativen historischen Erfahrungen politisch zu einer zurückhaltenderen Gangart verpflichten. Bislang ist die Bundesrepublik Deutschland damit politisch wie wirtschaftlich recht gut gefahren. Blickt man nach Amerika, dann kann man sehen, dass ständiges Säbelrassen und Scharen mit gepanzerten Füßen die Größe einer Nation auch rasch schleifen kann.

China etwa ist da ein leuchtendes Gegenbeispiel. Das "Land der Mitte" versteht sich zwar (wie die USA) als "einzigartig" in der Welt, gar als deren "Zentrum" und "Angelpunkt", hat aber keinerlei "missionarische" Absichten. Seine weltpolitische Macht und Bedeutung baut es (ähnlich wie Deutschland) eher mit leisen Tönen aus. Dabei orientiert es sich an einer klugen Vertrags-, Tribut- und Umarmungspolitik, wie sie seinerzeit schon von den Han-, Qing- oder Ming-Dynastien betrieben worden ist. Da es sich weder von universalen Prinzipien noch vom missionarischen Eifer treiben lässt, verstrickt sich China auch nicht in unnütze, risikoreiche und teure Waffengefechte.

Und ob der Kolonialismus besser wird, wenn er mit westlichen Werten und Besserwissertum daherkommt, sei mal dahingestellt. Auch darin könnte China in gewisser Weise vorbildhaft sein, zieht es derzeit aus der "splendid isolation", die seiner weltpolitischen Bedeutung und möglichen außenpolitischen Verantwortung widersprechen, doch den größten Nutzen.

Gewiss zehren und profitieren manche Länder (wie etwa Indien) heute noch von der zivilpolitischen "Kärrnerarbeit" der Briten. Andererseits sind sie mit unsinnigen Grenzziehungen, die sie damals gezogen haben, als sie die Länder fluchtartig verließen, auch für viele ethnische und kulturelle Verwerfungen verantwortlich, die den Nahen wie den Größeren Mittleren Osten derzeit plagen.

Drückeberger

Drei geschichtliche Fußnoten sind es, an denen Deutschland laut Bohrer immer noch leidet: Am Kleinstaatdenken der Vor-Bismarckzeit, an denen auch die Reichsidee des Reichskanzlers nichts ändern konnte; am nationalsozialistischen Trauma, das die Regierenden zu politischer Bescheidenheit und Demut mahnt; sowie am demonstrativ zur Schau getragenen "Nie wieder Krieg", das in einen "radikalen Pazifismus" gemündet hat.

So wie man schon beim Atomausstieg, wo man zwar ein neues technologisches Zeitalter ausrufe, den nötigen Energiebedarf aber dann von Russland oder von Kernkraftwerken der Nachbarschaft beziehe, lasse man auch in Konfliktfällen, wie der Fall Libyen zeigt, die Kastanien gern von anderen aus dem Feuer holen. Statt sich zu seiner, der Bedeutung und Machtgröße entsprechenden außenpolitischen Verantwortung zu bekennen, übe man sich hinterher lieber in "Schadenfreude" und brüste sich damit, andere vorm leichtfertigen Stolpern in ein unkalkulierbares militärisches Abenteuer gewarnt zu haben. Über die politischen Folgen und den Ansehensverlust, den man weltweit erlitten habe, mache man sich in Berlin offensichtlich wenig Gedanken.

Bohrers Fremdwahrnehmung

Richtig an Bohrers Kritik ist, dass ein nicht unbedeutender Teil der politischen Klasse lieber einem Entweder-Oder folgt als pragmatischen Lösungen. Bohrer hat Recht, wenn er sich in gut angelsächsischer Manier fragt, was an einer "Gesinnungsethik" überhaupt ethisch ist.

Dass die derzeitige Kanzlerin und ihre Entourage in Berlin mit "metaphysischen Prinzipien" hantieren oder gar fundamentalistische Losungen ausgeben, kann man jedoch nicht gerade behaupten. Von ihrem Ziehvater Kohl hat Frau Merkel vielleicht Zaudern und Zögern gelernt, auch wie man Probleme und Konflikte aussitzen kann. Und von den Metropolen Paris und London aus, wo Bohrer lebt, mag das mitunter auch so aussehen. Aber dass sie zu übermäßigen Idealismus neigt, keinen Machtinstinkt besitzt oder gar zu abstrakten politischen Ideen neigt, kann man von ihr mit Gewissheit nicht sagen. Gerade ihr Pragmatismus ist es doch, der ihren Kritikern bisweilen übel aufstößt.

Richtig ist auch, dass ein großer Teil der politischen Klasse an machtpolitischen Komplexen leidet. Nach wie vor besteht ein eklatanter Widerspruch zwischen ökonomischer Macht und politischer Größe. Gern ducken sich die Deutschen weg, wenn es unangenehm oder hart wird, und verweisen dann auf ihre unrühmliche jüngste Vergangenheit. Schon Hans-Dietrich Genscher hat das im zweiten Golfkrieg geschickt ausgenutzt und lieber mit dem Scheckbuch Politik gemacht als mit der Bundeswehr.

Für die Abstimmung im UN-Sicherheitsrat mag das stimmen. Wiewohl man anmerken muss, dass man einem Bericht des Spiegel zufolge die NATO-Bomber bei der Zielauswahl in Libyen logistisch unterstützt. Bei der Euro- und Finanzkrise schaut es wiederum anders aus. Fehlendes Selbstbewusstsein kann man der Kanzlerin beim besten Willen nicht ankreiden. Gilt sie nicht als "Madame Non", die Lösungswege verschleppt oder blockiert?

"Heil Merkel"

In Brüssel oder international zeigt sich der "politische Zwerg", auch ohne herausgehobene Posten in IWF oder EZB, als überaus robust und machtbewusst. Längst werden Machtfülle und das gewachsene Selbstbewusstsein Deutschlands kritisch beäugt. In manchen europäischen Medien wird bereits die Angst vor dem "Vierten Reich" geschürt. "Heil Merkel" lasen wir letzte Woche im italienischen Libero, "Deutschland will Europa dominieren" ( Rise of the Fourth Reich) lesen wir diese Woche in der Daily Mail. Sollte der fast Siebzigjährige die Zeitungen auf der Insel nicht lesen?

Mit ihrem militärischen Nein zum Gaddafi-Sturz hat die schwarzgelbe Regierung vielleicht die Krise der NATO befeuert (zu fragen ist, ob es dazu überhaupt noch etwas bedarf), im Falle der Euro-Rettung zeigt sie sich aber erstaunlich macht- und verantwortungsbewusst – vor allen was die eigenen Interessen angeht.

Für Bohrer mag ein solches "Bedachtsein auf den eigenen Vorgarten" ein neuerlicher Beweis für provinzielles Denken sein. Doch machen das die anderen Europäer nicht auch? Zeigen sie immer den "verantwortungsethischen" Blick über den Tellerrand, den Bohrer von den Deutschen verlangt? Steht ihnen, wenn es Spitz auf Knopf kommt, nicht auch das Hemd näher als der Rock? Und was bitteschön ist an David Cameron, an Nicolas Sarkozy oder Silvio Berlusconi "weltläufig" und "politisch welterfahrener" als an Angela Merkel? Gestik und Mimik etwa, die Frisur oder gar der Dresscode, die hektische Betriebsamkeit oder das eitle Gebaren vor Mikrofonen und Kameras?

Mehr Noblesse

Was Bohrer natürlich in und an der Berliner Republik vermisst, ist die distinguierte Haltung, die die Briten zeigen, oder den intellektuellen Esprit, den die Franzosen ausstrahlen. Mehr davon, von Noblesse, Aristokratie und Nationalstolz, würde Bohrer sich auch hierzulande wünschen. Dort aber führten seiner Ansicht nach Moral und Gesinnung Regie, Haltungen, die eher an Biedermänner oder Spießer erinnern und die Abkehr von der westlichen Welt befördern. Ist die politische Ästhetik, die Bohrer fordert und er bei Franzosen und Briten finden will, aber nicht längst bloß noch eine simulierte? Sind Größe, Glanz und Glorie, die sie vorgeben, nicht längst verblichen und Zeichen einer vergangenen Epoche?

Bohrer ist Bellizist, vor allem dann, wenn Kriege um der westlichen Zivilisation willen geführt werden. Darum hat er in den Achtzigern auch den Falklandkrieg begrüßt, weil dort Großbritanniens Größe nochmals aufgeblitzt ist. Und darum hat er in den Neunzigern auch die Intervention der Nato im Kosovo begrüßt, weil die rot-grüne Regierung über ihren Schatten gesprungen ist und die Europaidee, zumindest aus der Luft, robust verteidigt hat.

Vorpolitisches, mithin moralisches Denken, verabscheut er dagegen wie der Teufel das Weihwasser. Politischer "Biedersinn", wie er bisweilen vor allem in konservativ-bürgerlichen Milieus der FAZ-Leser herrscht, ist ihm ebenso ein Gräuel wie die Ergriffenheitsrituale protestantischer Kirchentage. Der "Wille zur Macht", der mehr politisches Selbstbewusstsein, Abkehr vom traumatischen Erbe der Nazis und entschiedenes Handeln signalisiert, ist ihm dagegen wichtig. Davon würde er sich in Berlin mehr wünschen. Auch in der Art des Auftretens nach außen.