Totgesagte leben länger

Wie der Spiegel in den 1980er Jahren das baldige Verschwinden der Grünen vorhersagte

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Ein Lieblingsthema der deutschen Presse von Cicero bis zur Süddeutschen Zeitung ist derzeit die Prophezeiung des Untergangs der Piratenpartei. Anlass dafür sind die während eines halben Jahres von 13 auf vier bis fünf Prozent zurückgegangenen Umfragewerte und die (angesichts dessen eigentlich wenig überraschenden) Streitigkeiten, wer und was dafür verantwortlich ist. Ein Blick in das Archiv zeigt allerdings, dass solche Prophezeiungen nicht zwangsläufig eintreffen müssen: So schrieb beispielsweise im September 1985 ein recht unverhohlen SPD-naher Autor im Spiegel, von einem "Scheitern" der damals fünf Jahre alten Grünen.

Als Belege dafür führte er nicht nur Austritte und Misserfolge bei Landtagswahlen im Saarland und in Nordrhein-Westfalen an, sondern auch ein Sinken der Umfragewerte von über zehn auf fünf Prozent in sechs Monaten, eine bei 30.000 stagnierende Mitgliederzahl, ein Verschlafen von schnellen Äußerungen zu Kernthemen-Steilvorlagen wie dem Glykolskandal und die Wahrnehmung, dass sich die Partei nur mehr mit sich selbst beschäftigen würde, ins Feld. Manche Sätze aus der damaligen Meldung ließen sich praktisch unverändert für die heutige Piraten-Berichterstattung verwendet, wenn man Namen austauscht: "Den Bonnern, findet auch der Chef der baden-württembergischen Landtagsgrünen, Fritz Kuhn, sei es "nicht gelungen, an den politischen Brennpunkten Fuß zu fassen".

Die damalige Selbstbeschäftigung der Grünen mündete in personellen Veränderungen und inhaltlichen Beschränkungen. Nach ihren ersten Erfolgen Anfang der 1980er Jahre hatte die Partei ein Sammelsurium an Außenseitern bis hin zu "Autonomen" und "Indianerkommune"-Pädophilen angezogen, die hoffen, mit der Bewegung ihre Interessen durchsetzen oder Karriere machen zu können. Ab 1985 reinigte man sich davon und konzentrierte sich wieder deutlich stärker auf das Kernthema Umwelt.

Dieser Weg steht auch der Piratenpartei offen. Sie kann ihr politisches Führungspersonal austauschen, wenn sich zeigt, dass es in der Bevölkerung oder in den Medien nicht ankommt. Das ist in der Politik ein ganz normaler Vorgang, von dem auch FDP, Linke, SPD und Union ein Lied singen können. Und sie kann Kernthemen wieder stärker in den Vordergrund rücken. Dazu müssen die Piraten allerdings erkennen, dass das Argument, sie würden in Umfragen verlieren, weil der Wähler nicht wisse, wofür sie stehen, zwar oft abgeschrieben, aber deshalb nicht richtiger wird. Tatsächlich scheint es eher so zu sein, dass die Piraten mit immer mehr Positionen zu Detailfragen außerhalb ihrer Kernthemen immer mehr Personen verschrecken, die dazu eine andere Meinung haben und solche Fragen lieber direktdemokratisch selbst entscheiden würden.