Sehnsucht nach tradierter Gestalt

Auf Dauer überleben wird der Katholizismus laut Matthias Matussek nur, wenn er für seine Gläubigen eine religiöse Trutzburg bildet

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Über zweihunderttausend Menschen haben sich bereits eine Karte gesichert. Leibhaftig wollen sie dabei sein, wenn der Papst im September erneut nach Deutschland kommt. Noch sind mehrere zehntausend Tickets zu haben, schreibt die Berliner Zeitung. Matthias Matussek, streitbarer Videoblogger und langjähriger Reporter beim Hamburger Magazin Der Spiegel, hat sich seins bestimmt schon besorgt.

Ich glaube, also bin ich

Wer sein Buch "Das katholische Abenteuer" liest (oder wenigstens eines der vielen Interviews von ihm in den Medien), weiß, dass er ein ausgesprochener Fan des Papsttums ist und er den Vorgängerpapst noch weit mehr verehrt und schätzt als den derzeit in Rom amtierenden. Ob er Papst Benedikt XVI. auf seiner Tour durch Deutschland hautnah verfolgen wird, hat er (noch) nicht mitgeteilt. Bei der zu erwartenden Eucharistie-Show im Berliner Olympiastadion wird er aber sicherlich unter den Jubelpilgern sein.

Vielleicht wird ihn dann neuerlich ein Schauer durchfahren wie seinerzeit, als er als Ministrant noch vor dem Altar agieren und das Weihrauchfass feierlich hin- und herschwenken durfte. Sein laut vorgebrachtes Bekenntnis zum Papst, zum Zölibat und Pillenverbot, zur katholischen Ämterhierarchie und zu "Ritualen und liturgischen Formen" jedoch schon. Es ist, journalistisch betrachtet, ausgesprochen mutig. Vor allem in Zeiten, wo dem Gottesglauben wissenschaftlich (Richard Dawkins, Daniel Dennett) wie journalistisch (Christopher Hitchens) der Garaus zu machen versucht wird, die katholische Kirche mit Päderasten und Missbrauchsfällen an Schutzbefohlenen konfrontiert ist und die Gläubigen in Scharen ihre Kirche verlassen, um am global florierenden Esoterikmarkt ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Halt und Orientierung zu stillen.

Gewiss haben sich in jüngster Zeit auch andere öffentlichkeitswirksam zum Glauben bekannt. Nina Hagen gehört dazu, die Fürstin von Thurn und Taxis und die Moderatorin Nina Ruge auch. Sie plädieren für sexuelle Enthaltsamkeit, erliegen der Faszination des Numinosen oder entdecken plötzlich ihr Herz für den Katholizismus neu oder wieder. Freilich arbeiten die Genannten nicht in einem religiös völlig entleerten Betrieb wie dem Hamburger Pressehaus im Fleetviertel, dem "religiöse Ergriffenheit", wie sie Matussek packt, wenn er die Kirchenpforten durchschreitet oder den päpstlichen Segen "Urbi et Orbi" zu Hause vor dem Bildschirm empfängt, vollkommen fremd ist.

Rüpel-Journalist

Nun, streitbar war Matussek immer schon. Die Provokation liegt ihm quasi im Blut. Mit Schauspielern und Schriftstellern, mit Stalinisten und Feministinnen legte er sich in den letzten Jahren immer wieder mal an. Und in Talkshows oder im Presseclub mimte er zur Freude der Zuschauer gern auch mal den Rabauken. Wutschnaubend fiel er den anderen ins Wort, beharrte rechthaberisch auf seiner Meinung oder bezichtigte seine Gesprächspartner der Unwissenheit.

Wegen solcher Rüpeleien und "unangemessener Umgangsformen", auch im Umgang mit Kollegen und Mitarbeitern, musste er vor drei Jahren die Leitung des Kulturressorts des Spiegels abgeben, zu dem er wiederum drei Jahre zuvor erst von Stefan Aust befördert worden war. In dieser Zeit versuchte er der Kultur im Spiegel ein eher krawalliges Image zu verpassen. Als ehemaliger Marxist wusste er, womit man Aufsehen und breite Aufmerksamkeit in einer durchsozialdemokratisierten Öffentlichkeit generieren kann.

Auf diesem Geschäftsfeld kommt der Katholizismus dank seiner Antimodernität nicht ganz ungelegen. Mit seiner offensiven Ablehnung von Sex, von Demokratie und Gleichberechtigung in der Kirche, die vollkommen quer zum politisch korrekten Mainstream der Medien liegt, kann man schnell Anstoß erregen. Und mit seinen ständigen Nörgeleien am Kommerzfernsehen, an oberflächlichem Klamauk und selbstgefälligem Politquark, scheint er derzeit ebenso prima in Deutschlands moralingesäuerte Landschaft zu passen wie mit seiner strikten Parteinahme für alle Armen, Entrechteten und Verzweifelten.

Längst gehören antikapitalistische Konsumkritik und moralische Empörung zur Grundausstattung und zum Repertoire jedes sozial bewegten Herz-Jesu-Ritters. Schon Franz Alt, überzeugte Bergprediger im hiesigen Staatsfernsehen, hat einst die Bergpredigt als soziales Alternativprogramm zum kommunistischen Manifest empfohlen. Und in Habgier, Wollust und Selbstsucht, die zu den sieben Kardinalsünden zählen, wurden auch längst die Schuldigen für die aktuelle Misere ausfindig gemacht. Auch Matussek kommt als guter Bußprediger nicht umhin, sie zu Anfang seines Buches alle aufzuzählen und an ihnen alle Übel der Welt festzumachen.

Antimodern, aber sinnenfreudig

In der Tat baut der Katholizismus mit seinem Mysterienglauben an die Jungfrauengeburt, die Dreifaltigkeit Gottes und die Realpräsenz von Jesus Christus in der Transsubtantiation eine antimoderne Gegenwelt zum hedonistisch geprägten Alltag des modernen Spaßbürgers und Partygängers auf. Matussek hat vermutlich nicht ganz unrecht, wenn er meint, dass der katholische Glaube auf Dauer nur überleben kann, wenn er sich auf seine zweitausendjährige Tradition rückbesinnt, auf die Liturgie, die kirchliche Hierarchie und die Marienverehrung.

Nur wenn er sich zu einer Art Trutzburg entwickelt und er sich aktiv jeder weiteren Protestantisierung, sprich Profanisierung, die die "Reformologen" unter den katholischen Theologen anstreben, sperrt; nur wenn der Katholizismus sich beständig zeigt, dem Zeitgeist trotzt und dadurch seine Identität bewahrt, wird das katholische Schiff weiter durch die gewaltigen Stürme und Zeiten schippern können. Öffnet er sich jedoch weiter, macht er zunehmend auf Sozialkritik und gibt dadurch all seine Geheimnisse und Gegenweltlichkeit auf, wie manch einer ihm andienern will, wird er scheitern ( Oh Jesus). Er wird sich zerfleddern, sich funktionell noch mehr ausdifferenzieren und in der Unkenntlichkeit verschwinden.

Zwar wird mit der Besinnung auf Tradition und Dogmengeschichte die Zahl der Gottesdienstbesucher weder zunehmen noch die der Kirchenaustritte abnehmen, wie Matussek hofft. Vielleicht werden aber die Wenigen, die dann noch bleiben und die Kirchenhäuser besuchen, umso enger zusammenrücken und sich wie einst die urchristlichen Gemeinden im antiken Rom um ihren Hirten scharen. Keine Religion der Welt kann ihren Gläubigen nämlich derart pompöse liturgische Spektakel bieten wie er. Wer selbst schon mal dabei war, wenn sich die Purpurträger hinter den Papst einreihen oder er vor Hunderttausenden eine Messe auf einem öffentlichen Platz zelebriert, wird das bestätigen.

Im Gegensatz zum nüchternen, bilderlosen und vom moralischen Rigorismus gebeutelten Protestantismus gehört der Katholizismus zu den "fröhlichsten", "kunstsinnigsten" und "sinnenfreudigsten" Religionen der Welt. Ausschweifungen sind auch dem gläubigsten Katholiken nicht völlig fremd. Völlerei und Hurerei, Saufen und Prassen sind ihm solange nicht ausdrücklich untersagt, wie er bereit ist, für seine Sünden vor Gott gerade zu stehen und Demut und Reue vor dem Herrn zu zeigen.

Totale Lebensform

Obgleich ich mich vor ewig langer Zeit vom Katholizismus losgesagt habe, kann ich Matusseks "katholische Education sentimentale" gut nachvollziehen. Der Katholizismus stellte damals, vor fünfzig Jahren, sicherlich "eine machtvolle und allumfassende Lebenswelt" dar, für mich ebenso wie für meine Freunde. Auch während meiner Kindheit wurde der Alltag maßgeblich vom Katholizismus bestimmt, vom Kirchgang und vom Blasius-Segen, vom Beichtstuhl und der heiligen Kommunion.

Sonntags putzten wir uns festlich für den Kirchgang heraus. An Allerheiligen besuchten wir die Gräber unserer Verwandten. Und zur Fronleichnamsprozession zogen wir mit dem Pfarrer durch die Fluren und geschmückten Straßen und Häuser unserer Wohnviertel. In der Religionsstunde fragte uns der Lehrer penibel danach, wie oft wir während der Woche dem Heiland unsere Aufwartung gemacht hatten. Sonntags und fünfmal war damals eher die Regel als die Ausnahme. Wer nur ein- oder zweimal die Morgenandacht besucht oder sie gar geschwänzt hatte, der wurde nicht nur mit hochgezogenen Augenbrauen bedacht, er musste auch fürchten, in Religion nicht das übliche "sehr gut" im Zeugnis vorzufinden.

Mogeln und schwindeln

Schon deswegen haben einige von uns immer wieder zu mogeln versucht, beim Religionslehrer wie beim Kirchgang. Entweder schwindelten wir ein bisschen, was die Häufigkeit unserer Kirchbesuche anging, oder wir drückten uns vor der Kirchentür solange herum, bis die "Messe gelesen" war. Obwohl sie damals noch in lateinischer Sprache gehalten wurde, wir das Ave Maria und alle anderen Gebete auswendig kannten, haben wir von jener religiösen Ergriffenheit, von der Matussek spricht, nichts bemerkt.

Das "Glaubensbekenntnis" haben wir meist ebenso teilnahmslos heruntergeleiert wie danach das "Vater Unser". Die religiösen "Wahrheiten", die wir da nachsprachen, blieben uns mehr oder minder verborgen. Selbst die Gewissenserforschung, die wir vor Beginn jeder Beichte zu absolvieren hatten, empfanden wir weniger als Begegnung mit uns selbst als vielmehr als lästige Pflicht, um am Sonntag Gott essen zu dürfen.

Ohne Glauben

Darum war es spätestens mit Beginn der Pubertät mit jeglicher Frömmigkeit vorbei. Trotz der damals noch mit großen Ernst geführten religiösen Erziehung in der Schule; und trotz aller, dem Rhythmen des Kirchenkalenders geschuldeten Zeit, ist davon im Laufe der Jahre außer einigen wunderlichen Reminiszenzen an diese meist unbeschwert verlaufene Kindheit, an die mich das Buch erinnert hat, nicht viel geblieben.

Auch ohne Transzendenz und "vertikale Spannung", wie sie Matussek offenbar zum Leben braucht und sie erleben will, kommt man im Leben ganz gut zurecht. Glauben kann man alles Mögliche, an die Heilkraft von Steinen und den Bayern-Dusel genauso wie an die klassenlose Gesellschaft oder das politische Geschick der Kanzlerin. Markt und Angebot sind dafür mittlerweile riesengroß.

Insofern ist und bleibt der Glaube möglicherweise doch "eine anthropologische Konstante." Dass "religiöse Menschen glücklicher und länger leben" als Ungläubige. kann man glauben; und dass eine Gesellschaft laut Matussek "ohne christlichen Glauben, ohne Ehrfurcht vor dem Höchsten und dem Mitmenschen und dem Wunder der Schöpfung, dehumanisiert", auch. Allein, mir fehlt der Glaube.

Matthias Matussek: Das katholische Abenteuer. Eine Provokation. DVA, München. 368 Seiten, 19,99 Euro.