Die Lehren der Helene Hegemann

Abschreiben ist was anderes

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Helene Hegemann, gerade noch von der Filmregisseurin zum It-Girl des Literaturbetriebs mutiert, soll abgeschrieben haben. Und wird fertiggemacht. Das ist ungerecht. Und ist vielleicht doch gar nicht so interessant - außer in dem, was es über den Kulturbetrieb sagt und über den Zusammenhang von Empörung, Unterstellung, Neid und Moralismus.

"Jede Geschichte ist heute nur noch eine alte Geschichte", sagte einmal der Filmregisseur Howard Hawks: "Alles ist schon erzählt worden. Daher liegen Originalität und schöpferische Kraft nur noch in der Art und Weise, wie man erzählt."

Angenommen, in dem Roman "Axolotl Roadkill" wäre nicht ein einziger Satz von Helene Hegemann, es wäre stattdessen alles kompiliert aus irgendwelchen anderen, nicht nachgewiesenen, aber nachweisbaren Quellen - wäre es dann ein schlechteres Buch? Würde sich seine Lektüre weniger lohnen als vorher? Doch wohl kaum.

"Ich hab' ja sowieso grundsätzlich alles von irgendwoher genommen, also beispielsweise aus meinem Umfeld, meinem näheren, aus Zeitschriften, aus Büchern von anderen Autoren. Also ich klaue einfach hauptsächlich - weißt du? -, wenn ich nicht mehr weiterkomme und wenn ich denke, es ist notwendig, um so etwas zusammenzusetzen, was man da erzählen will. Und deswegen klaue ich natürlich auch von mir." (Helene Hegemann im Deutschlandfunk)

Sich inspirieren lassen..

Helene Hegemann hat sich also inspirieren lassen, von einem Szene-Roman, den der Blogger Airen geschrieben hat, den vorher keiner kannte, und der - soweit es um bloße Aufmerksamkeit geht - davon profitieren könnte, dass einiges aus seinem "Strobo" in "Axolotl Roadkill" verarbeitet wurde. Das hat aber auch seine Schattenseiten: Er schreibt nicht halb so gut wie die kluge Hegemann, das wird dadurch auch klar. Er hat nicht ihr Sprachgefühl und nicht ihren Rhythmus, weil er nicht verdichtet und keine Tempiwechsel vornimmt wie sie.

Wenn man die Abschreibvorwürfe ansieht, etwa die Zusammenstellung des Münchner Bloggers Deef Pirmasens (viel ausführlicher noch vom "Strobo"-Autor Airen hier, Einf. d. Red.) , dann denkt man immer wieder: Ok, das kannte Helene offenbar, aber - so what? Abschreiben ist was anderes, und die paar Sätzchen geben zusammen keine drei Seiten des rund 200 Seiten langen Romans. Die zuständige Lektorin Ulrike Ostermeyer meint, dass dazu dann noch mal aus anderen bislang ungenannten Quellen je "ein bis drei Sätze" ins Buch eingeflossen sind, die "zusammen nicht mehr als eine Buchseite" ergäben. Längere Passagen oder ganze Seiten habe sie nicht übernommen.

Auf einen Blick in die Welt kommen neun Blicke in die Bücher

Juristisch bleibt mehr als fraglich, ob nun das überhaupt ein Plagiat genannt werden kann. Plagiatsvorwürfe kennt man ja immer wieder vor allem von Bestsellern, etwa auch von Frank Schätzing. Meist verläuft das alles im Sand. Es war nicht unbedingt höflich und etwas dreist, ließe sich hinzufügen. Auf der Ebene der ästhetischen Theorie könnte man ergänzen, dass Methoden des Sampling, der Cut-up-Technik, der Mashup-Ästhetik, des Remix, der Sharing- und Filesharing-Kultur im Pop gang und gäbe sind, dass das kluge Abschreiben - also Mixen, Umstellen, Variieren, Ergänzen kanonischer Texte - im Mittelalter noch eine verbreitete Kulturtechnik war, dass bereits die klassische Moderne in Malerei wie Literatur den (Bri-)Collage-Gedanken praktizierte und und und.

Damit kann man den künstlerischen Aspekt schon ad acta legen. Es ist Aufgabe der Kunst, sich etwas zusammenzuphantasieren und sich hierfür aus der Welt zu bedienen. Faulkner hat angeblich gesagt - aber dafür war jetzt auf die Schnelle kein Nachweis zu erbringen, also formulieren wir hier juristisch hübsch reserviert -, dass bei der Arbeit des Schriftstellers auf einen Blick in die Welt neun Blicke in die Bücher kämen. Bei Helene Hegemann ist das Verhältnis sogar günstiger für die Welt, aber dazu kommen dann noch fünf Blicke in ihren Kopf, und was da neben Büchern so drin ist, will man ja gar nicht so genau wissen. Die Kurzschlüsse zwischen Biographie und Autorin sind in diesem Fall ja so besonders quälend.

"Berliner Kulturphänomen"? Ein paar Lehren des Falles Hegemann

Die erste Lehre betrifft das Verhältnis von Kino und Literatur. Als Hegemann 2008/2009 ihren Film "Torpedo" herausbrachte, interessierte das ein paar Filmkritiker. Hier konnte man nichts abschreiben. Irgendwas muss sie schon können. Man durfte darüber schreiben, aber nur klein. Und in einer süddeutschen Tageszeitung, die mal wieder nicht schnell genug gewesen war, bemühte man sich dann, als der Film schleppende Monate später dann doch in München anlief, gewohnt cool "mit beiläufigem Blick" zu erklären, warum das alles ja nur ein "Berliner Kulturphänomen" und irgendwie eine Wunschvorstellung und Erfindung "des Berliner Feuilletons" gewesen war - nicht ohne der Regisseurin latent unter der Gürtellinie ihr Talent "zur Selbstdarstellung" vorzuhalten. Womit man dem Film dann gleich noch alle Bedeutung absprach. De facto war "Torpedo" auch in Berlin nicht groß in den Feuilletons, trotz des Max-Ophüls-Preis.

Als Hegemann dann so ziemlich das Gleiche wie in "Torpedo" in Buchform machte, gab es überall ellenlange Artikel, Aufmacher, Interviews. Gut, Marketing ist das eine, das andere aber ist die verschiedene Wahrnehmung von Literatur und Film. So etwas kann nur in Deutschland passieren.

Die zweite Lehre: Wenn man 17 ist oder 16 oder 15, hat man es nicht leicht. Wenn man einen bekannten Vater hat und bekannte Leute kennt, noch weniger. Wenn man vom Prenzlauer Berg kommt, der angeblich ein "Szenebezirk" ist - auch wenn die Wahrheit eher München Haidhausen, Stuttgart Degerloch oder dem Tübinger Unibezirk ähnelt - dann schadet das zusätzlich.

Die Unterstellungsmaschine

Was jetzt angeworfen wird, ist die Unterstellungsmaschine: Wer "Torpedo" gut fand, und jetzt "Axolotl Roadkill", und wer männlich ist, dem unterstellt man, er sei irgendwie auf Hegemann scharf, da sie erst 17 ist, und jünger war, wabert da dann noch das Pädophilie-Geschmäckle im Raum und schnell sind wir im Polanski-Terrain. Außerdem will man sich natürlich eigentlich nur bei Papa Carl Hegemann einschleimen, bei der Volksbühne oder einfach "der Berliner Kulturszene" (wo finde ich die übrigens? Hätte gern eine Adresse). Kein Hegemann-Text überhaupt kommt ohne den Verweis auf den Vater aus, und auf das Alter der Autorin.

Immerhin Maxim Biller, der sowieso eines der besten Stücke zum Buch geschrieben hat, worauf ihm manche jetzt "sexuelle Belästigung in Textform" (eine Redakteurin, die wir nicht nennen wollen, im Gespräch) vorwerfen, Maxim Biller also hat diese Fakten erst im letzten Absatz geschrieben, weil es ihm selbst offenbar unangemessen schien.

Für andere ist jetzt offenbar endlich mal die Stunde gekommen zu sagen, was sie schon immer mal gegen Carl Hegemann sagen wollten, sich das aber nicht zu schreiben trauten.

Ganz besonders schlimm, hier muss man es mal personalisieren, ist die Masche vom Münchner in Hamburg, von Willi Winkler in der SZ vom 9.2., die offenbar sowieso ein irgendwie komplexbelastetes Verhältnis zu allem hat, was aus Berlin kommt: "Kindsmissbrauch ist ein schweres Delikt, jedenfalls in zivilisierten Gesellschaften." Was für ein erster Satz in dem Zusammenhang! Dann kommen die "paar Jesuiten-Patres, die in Berlin oder auch andernorts". Wahrscheinlich hält er das für witzig. Dann nächster Absatz, erster Satz: "Es gibt eine andere Form von Kindsmissbrauch, die nicht einmal mehr als Kavaliersdelikt gilt, sondern längst Teil der Kulturindustrie geworden ist."

Ja und dann geht es weiter, unter der Gürtellinie, wo mit "übrigens" eingeleitet leicht gehässig erzählt wird, dass Carl Hegemann "als guter Vater" der Tochter "ausweislich einer Amazon-Quittung am 28. August 2009 'Strobo' nach Hause schicken lassen" hat. Ja und?

Lob vom jüngeren weiblichen Rezensentinnen

Vielleicht muss man, wenn man hier schon mit eindeutig sexuellen Zweideutigkeiten von Missbrauch spricht, und davon, dass Maxim Biller "auch schon über 40" ist - Willi Winkler übrigens über 50 und Vater - am Rande erwähnen, dass das Buch nicht etwa von geifernden älteren Männern um die 50 gelobt wurde, sondern von weiblichen, zum Teil ziemlich jungen Rezensentinnen: Ursula März in der ZEIT, Mara Delius in der FAZ, Nina Apin in der taz, Jana Simon im ZEIT-Magazin, Cosima Lutz in der WELT, Karoline Hill im Freitag, Nadine Lange im Tagesspiegel - das waren die frühen Texte, erst dann kam Biller. Die, die jetzt schimpfen, sind die alten Männer.

Ansonsten: Alles soll im alten Trott bleiben

Die weitere Lektion also: Wunderkind darf nicht sein. Darf nur sein als Produkt, Produkt der Väter, der Erwachsenen, eines Betriebs. Jetzt entdecken alle plötzlich, dass man den Betrieb, dem sie selbst ja angehören, auch mal zum Thema machen müsste - was zwar stimmt, was man aber schon längst und nicht erst am so oder so eher Ausnahmefall Hegemann hätte wissen können. Jetzt aber wissen sie es alle. Und wissen wieder: Die literarische Jugend ist hochgeschrieben worden.

Kann doch also alles bleiben im alten Trott. Keine Angst, kein Grund nachzudenken oder die eigenen Kategorien zu überprüfen. Weiter aus dem Stehsatz. Eine von bürgerlicher Blässe und Angst vorm Altwerden heimgesuchte Literaturkritik freut sich daran, dass das Leben nun in Form des Plagiats die Hosen runterlässt, und die Kunst in Klatsch verwandelt - hat sie, hat sie nicht? Hat der Vater? Und was genau eigentlich nicht? Besser wäre, einfach zu lesen.

Die Moral-Maschine

Zum Wunderkind-Destruktionsreflex kommt die Moral-Maschine. Man kann im Fall Hegemann den Ausdruck des Moralisierungszwanges von Kritikern erkennen, die "Reife" einfordern, Literatur als ein Erwachsenenprodukt, die bei 17-jährigen immer schreiben, dass sie 17 sind, Schulabrecher und "nicht so", wie der Roman beschreibt. Bei Martin Walser steht dann aber nie: Der ist über 80 und senil, und nicht alle alten Männer sind "so".

Sind es denn nicht Erwachsenenphantasien, dass die Jugend heute wohlkerzogen ist, wieder mehr betet, weniger "Scheiße" sagt und "abgefuckt", dass sie nur altklug ist, wenn ihre Szene-Väter ihnen in den Text reinmurksen, und dass sie keine Theoriezitate kennen, dass man nicht gleichzeitig Foucault lesen kann und Pornos gucken, Pascal Laugiers Filme gucken und Pollesch-Inszenierungen?

Ist es nicht Erwachsenenkitsch und Erwachsenenangst, dass Mädchen durch den Tod ihrer Mutter gefälligst traumatisiert zu sein haben, und dass eine 17-Jährige, die einfach sagt, was viele, außer Paul-Nolte-Lesern denken, dass nämlich die Institution Familie in ihrer klassischen Form überholt ist, und die druckreife Sätze sagt wie: "Es wird sich dahin entwickeln, dass Freunde die Familie sind. Die Familie an sich ist nicht kapitalismusgeeignet. Die Rückbesinnung darauf ist wirklich nur Melancholie", dass ein solches Mädchen das nicht ernst meinen kann, und wenn doch, halt das gestörte Kind von 68ern oder einer Berliner Bohème ist?

Helene Hegemann: "Axolotl Roadkill". Ullstein, Berlin. 208 S., 14,95 Euro