Cocktaileffekte im Wasserglas?

Es ist unklar, wie gefährlich die aktuellen Konzentrationen von Arzneimitteln im Trinkwasser sind. Forschung tut Not

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Arzneimittel sind auf Stabilität optimiert. Denn bevor sie im Körper abgebaut werden, sollen sie möglichst viele kranken Zellen erreichen. Mit zweierlei Konsequenz: Zum einen werden die Substanzen nicht vollständig im menschlichen Körper verstoffwechselt, sondern über den Urin wieder ausgeschieden. Zum anderen erschwert die Stabilität der Moleküle den biologischen Abbau in den Kläranlagen. Von den Kläranlagen geht es dann über die Gewässer und das Grundwasser zurück in das Trinkwasser.

In welchen Konzentrationen welche Mittel wohin gelangen, ist zur Zeit Gegenstand der Forschung. Toxikologen rechnen damit, dass die Belastung des Trinkwassers mit Arzneimitteln innerhalb der nächsten 20 Jahre um bis zu 30 Prozent steigen wird.

Geowissenschaftler der Jacobs University in Bremen haben jüngst die Konzentration von Gadolinium im Berliner Trinkwasser verfolgt und auf einer Karte ( pdf) veröffentlicht. Das chemische Element, das als Kontrastmittel bei der Magnetresonanz-Tomografie eingesetzt wird, lässt sich extrem lange im Wasser nachweisen.

Die Analyse ergab große Unterschiede in den Berliner Bezirken. Am höchsten war sie mit 6,16 Nanogramm/kg in Berlin Mitte, der Spiegel (41/2010) vermutete die Uni-Klinik Charité als Verursacherin. Der Autor der Studie, Michael Blau, verwarf diese Vermutung auf Anfrage der Telepolis: "Das Abwasser der meisten Kliniken und natürlich aller niedergelassenen Radiologen landet letztlich im normalen Abwasser. Der Ost-West-Unterschied in Berlin hat mit der Tatsache zu tun, dass im Westen bewusst Grundwasseranreicherung mit Oberflächenwasser gemacht wurde und wird und die großen Kläranlagen natürlich in die Havel und den Teltow-Kanal einleiten."

Die Berliner Wasserbetriebe weichen aus: Man sähe keine Beweise dafür, dass das Vorhandensein von Gadolinium ein belastbarer Hinweis auf Arzneimittelrückstände im Trinkwasser ist. Richtig ist, dass noch nicht vollständig bewiesen wurde, das Gadolinium ein guter Indikator ist. Richtig ist aber auch, dass bisher 15 verschiedene Arzneimittelwirkstoffe in deutschen Trinkwasserproben gefunden wurden. Die gemessenen Konzentrationen sind dabei zwar mit wenigen Nanogramm pro Liter noch einmal deutlich niedriger als im Oberflächen- und Grundwasser. Dort liegen die gemessenen Konzentrationen durchschnittlich im Bereich von wenigen Milliardstel bis zu einigen Millionstel Gramm pro Liter (Nano- beziehungsweise Mikrogramm pro Liter).

Löst man beispielsweise einen Würfel Zucker im Berliner Wannsee auf, ergibt sich eine Zuckerkonzentration von rund einem Nanogramm pro Liter. Und im Trinkwasser findet sich noch einmal weniger als in den Gewässern. Der in Antiepileptika eingesetzte Wirkstoff Carbamazepin konnte in einigen Trinkwasserproben in Konzentrationen von 30 Nanogramm pro Liter nachgewiesen werden. Ein Mensch, der täglich zwei Liter trinkt, würde in einem siebzigjährigen Leben nur einige Tausendstel einer empfohlenen Tagesdosis (rund 600 mg) aufnehmen. Nach Expertenmeinung können daher zur Zeit akute Gesundheitsgefährdungen durch den Konsum von Trinkwasser nahezu ausgeschlossen werden.

Also keine Gefahr? Ganz so einfach ist es nicht, denn es ist weitgehend unerforscht, inwieweit auch diese kleinen Dosen unbekannte Effekte auslösen können. Der Cocktaileffekt der lebenslangen Aufnahme von Stoffen und Gemischen von Stoffen im menschlichen Körper rückt erst langsam in den Fokus der Forscher. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte 2005 eine vor drei Jahren abgeschlossene Studie, die Strategien zum Umgang mit Arzneimitteln im Trinkwasser erarbeiten sollten. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine "fundierte wissenschaftliche Risikoabschätzung" in bezug auf den Cocktaileffekt "derzeit noch nicht möglich" sei.

Die Tierwelt hat auf die Arzneimittelrückstände in ihrer Umwelt schon reagiert. Dass Verhütungsmittelrückstände in Flüssen und Seen zur Verweiblichung von männlichen Fischen beitragen, gilt als erwiesen. Und in Indien und Pakistan wird das Aussterben von drei Geierarten darauf zurück geführt, dass sie verendete Rinder gegessen hatten, die mit dem Antirheumatikum Diclofenac behandelt worden waren.

Was tun?

(1) Eine repräsentative Untersuchung hat 2006 ergeben, dass jeder siebte Bundesbürger seine nicht mehr benötigten Tabletten zumindest gelegentlich im WC entsorgt. Flüssige Arzneimittelreste kippen sogar die Hälfte zeitweise in den Ausguss oder die Toilette. Dabei stehen die Apotheken offen, um Medikamente aller Art zurück zu nehmen. Ärzte und Apotheker sind aufgerufen bei sich, Patienten und Kunden ein Problembewusstsein zu schaffen.

(2) Die Arzneimittelhersteller haben mit der Entwicklung sogenannter "grüner Wirkstoffe" begonnen, die in der Umwelt besser abgebaut werden.

(3) In einer Studie an der Universität Gießen wurde unter anderem die verordnete Menge von Carbamazepin im Einzugsgebiet der dortigen Kläranlage für einen bestimmten Zeitraum bilanziert. Durch die Analyse des der Kläranlage zulaufenden Abwassers konnte der tatsächlich ausgeschiedene Arzneimittelwirkstoffanteil einwohnerscharf für dieses Einzugsgebiet kalkuliert werden. Ergebnis: Es fanden sich etwa 8% der verschriebenen Menge des Wirkstoffs Carbamazepin im Zulauf der Kläranlage wieder. Hiervon wurden lediglich 9% in der Anlage zurückgehalten, so dass über 90% über den Ablauf der Kläranlage in die Umwelt gelangten. Damit dieser Wert sinkt, hat die Hochschule Biberach ein Verfahren zur Behandlung von Abwasser zur Entnahme von Spurenstoffen entwickelt. Dabei ist es gelungen, durch den Zusatz von Aktivkohle Hormone und Medikamentenrückstände maßgeblich zu reduzieren.