Bundespräsidentenwahl stellt die Bundesregierung vor eine Zerreißprobe

In der FDP wird offen über eine Wahl von Joachim Gauck nachgedacht

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mit der Nominierung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff wollten die Spitzen der christlich-liberalen Koalition Handlungsfähigkeiten beweisen und nach einem mehr als missglückten Start zeigen, dass sie an dem Bündnis trotz aller Meinungsverschiedenheiten und Konzeptlosigkeit festhalten wollen. Der CDU-Mann Wulff, der selbst eine schwarz-gelbe Koalition führt, schien dafür der perfekte Kandidat zu sein. Doch dieses parteipolitische Taktieren um das höchste Amt im Staate könnte Merkel und Westerwelle nun auf die Füße fallen - immer lauter werden die Stimmen aus dem eigenen Lager, die offen über eine Wahl des rot-grünen Kandidaten Joachim Gauck nachdenken.

Rein rechnerisch ist alles eindeutig. Union und FDP kommen zusammen auf mindestens 644 Sitze in der Bundesversammlung. Bei insgesamt 1244 Mitgliedern bedeutet dies einen deutlichen Vorsprung von 44 Sitzen, die Opposition entsendet laut den Zahlen aus dem Innenministerium höchstens 600 Wahlfrauen und -männer. Doch die "parteipolititschen Spielchen" bei der Präsidentenwahl, die Gauck in einem Interview kritisierte, scheinen dem schwarz-gelben Lager nun selbst auf die Füße zu fallen.

Besonders in der FDP wird laut über eine Wahl des rot-grünen Gegenkandidaten nachgedacht. So erklärte der Vorsitzende der sächsischen FDP und der dortigen Landtagsfraktion, Holger Zastrow, es gebe keinen Blankoscheck für eine Wahl von Wulff. Er habe "große Sympathien für Joachim Gauck". Damit ist er nicht der einzige, auch Veit Wolpert, FDP-Fraktionsvorsitzender in Sachsen-Anhalt, überlegt derzeit noch, ob seine Fraktion mit Wulff leben könne, es gebe Bedenken. Nach seiner Aussage sind die Liberalen in den Ländern über den Vorsitzenden ihrer Bundespartei, Westerwelle, verärgert, weil dieser sie in die Kandidatenauswahl nicht mit einbezogen habe.

Kritik an der Kandidatur von Wulff kommt auch aus der FDP in Bayern und Baden-Württemberg, bei der FDP in Thüringen ist die Entscheidung den Aussagen ihres Generalsekretärs Patrick Kurth zufolge bisher noch nicht gefallen. In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sprechen sich die Liberalen allerdings für Wulff aus.

Liberale fühlen sich übergangen

Da von Seiten der Koalition lediglich Unions-Politiker für die Köhler-Nachfolge im Gespräch waren, fühlen sich die Liberalen offenbar übergangen. Hinzu kommt die Einsicht, ihre Ziele in der schwarz-gelben Koalition in Berlin nicht durchsetzen zu können. Die wenigen Anliegen der Liberalen, zu denen in erster Linie Steuersenkungen und die Einführung der Kopfpauschale im Gesundheitswesen gelten, sind entweder aufgrund der desolaten Haushaltslage nicht umsetzbar oder werden vom größeren Koalitionspartner abgelehnt. Hinzu kommen die ständig sinkenden Umfragewerte der FDP, die sich innerhalb eines Jahres geradezu halbiert haben, was zu einem nicht unbedeutenden Teil auch dem erfolglos agierenden Guido Westerwelle anzulasten ist.

Die Liberalen, die offen darüber nachdenken, den rot-grünen Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck zu unterstützen, wissen genau, dass eine Niederlage von Christian Wulff in der Bundesversammlung gleichzeitig das Aus für die schwarz-gelbe Bundesregierung bedeuten würde. Ob sie es soweit kommen lassen, darf ernsthaft angezweifelt werden. Spätestens im dritten Wahlgang, wenn statt einer absoluten nur noch eine einfache Mehrheit für die Wahl des künftigen Bundespräsidenten notwendig ist, sollte die Mehrheit für Wulff stehen. Die Diskussion ist jedoch ein deutlicher Warnschuss in Richtung Berlin. Die Anzahl der erforderlichen Wahlgänge und die Zahl der fehlenden Stimmen aus dem schwarz-gelben Lager sind Indikatoren für die Stabilität der Bundesregierung. Eine weitere Schwächung der Position von Angela Merkel ist wahrscheinlich.