Meinungsfreiheit? Aber doch nicht bei ALG II!

Außer Kontrolle

Nicht nur Einkünfte und Vermögen interessieren so manches Jobcenter, auch die Geisteshaltung der ALG II-Leistungsempfänger will überprüft werden.

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Fefes Blog ist ja, insbesondere was die Absurditäten diverser Behörden angeht, eine Fundgrube. Immer wieder gibt es dort Hinweise auf die teilweise schon sehr bemühten Versuche der Arbeitsagenturen/Jobcenter etc., den Leistungsbeziehern zu unterstellen, sie hätten Einkünfte oder Vermögen nicht angegeben. Die Möglichkeiten, auf solche Ideen zu kommen, sind mannigfaltig. Mal reicht die Kleidung (eigenes Erlebnis: Die Tatsache, dass ich mir Strassohrringe plus eine Kunstpelzjacke leisten konnte, machte stutzig und führte zu Nachfragen), mal ein vorhandenes Auto, mal die Nichterreichbarkeit zu "normalen Arbeitsstunden".

Das heutige Beispiel zeigt aber auch auf, wie weit die Angestellten der diversen mit ALG II beschäftigten Behörden gehen, wenn es sich darum handelt, sich über die Leistungsbezieher zu informieren. So erhielt der Musiker Leonard Kroppach (alias Tapete) Post vom zuständigen Jobcenter. Nicht nur wollten die diensteifrigen Mitarbeiter wissen, welche Einkünfte er denn seit 2009 durch seine Tätigkeit als Musiker gehabt hätte (und unterstellten damit, er hätte diese gehabt, jedoch nicht angegeben). Darüberhinaus wollten sie Informationen über Art und Anschaffungskosten/-möglichkeiten bezüglich seines Equipments und zudem eine aktuelle Schufaauskunft - dazu wurden noch andere Informationen begehrt. Begehrt bedeutet in diesem Fall, dass der Musiker bis zum 13.02.2012 Zeit hat, all die notwendigen Informationen einzuholen bzw. Stellungnahmen (ausführlich!) vorzulegen - da das Schreiben den 27.01.2012 als Datum trägt und am 31. Januar seinen Adressaten erreichte, bleiben somit ganze 13 Tage Zeit, um die Neugierde der Behörde zu befriedigen.

Interessant ist auch ein weiterer Aspekt. Wer den Namen des Musikers in eine Suchmaschine eingibt, findet unter anderem eine Kurzvorstellung samt kurzen griffigen Zitaten auf der Internetpräsenz der Musikzeitschrift "Melodie und Rhythmus". Dass der Musiker mit der "größten Klappe Berlins" als Zitat den Spruch "Ich bedank mich jeden Tag bei Vater Staat, dass ich auf seine Kosten leben darf" wählte, machte die Mitarbeiter des Jobcenters augenscheinlich so neugierig, dass sie neben den diversen Auskünften zum Einkommen auch noch eine Stellungnahme darüber fordern, was er mit diesem Zitat denn aussagen will.

Das Zitat ist ein - in verschiedenen Variationen - bekannter Spruch bei ALG- II-Leistungsempfängern, die damit auf sarkastische Weise Bezug nehmen auf diverse Politiker (nicht nur), die gerne betonen, wie dankbar doch die ALG-II-Empfänger für das Geld, das sie erhalten, sein sollen. Immerhin, so lauten gern verwendete Argumente, gebe es in vielen Ländern gar nichts vom Staat, wenn keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen wird; die diversen Sanktionsmöglichkeiten seien anderswo viel schlimmer; und überhaupt könne doch jeder wohl etwas Dankbarkeit gegenüber den Steuerzahlern sowie dem "Staat" zeigen, auf deren Kosten er lebe. Da die Mehrheit der ALG-II-Empfänger nicht gerade große Begeisterung dafür zeigt, zu den Leistungsbeziehern zu gehören (samt allen Nebeneffekten) sind derartige Kommentare, die letztendlich auf ein "als ALG II-Empfänger hast du die Klappe zu halten und lieb und dankbar zu lächeln und zu agieren" hinauslaufen, weder neu noch originell, führen jedoch regelmäßig zu Verdruss.

Die Art und Weise, wie hier Informationen innerhalb kürzester Zeit (ausführlich) eingefordert werden, natürlich garniert mit dem dezenten Hinweis, dass solche Informationen zeitgerecht vorgelegt werden müssen und notwendig sind für die Gewährung der ALG-II-Leistungen, ist typisch für das Agieren der Jobcenter und Arbeitsagenturen geworden. Möglichst kurzfristig angesetzte Termine, Schreiben, die erst ca. 14 Tage nach dem auf dem Briefkopf zu sehenden Datum ankommen und Informationen, die innerhalb kürzester Zeit eingereicht werden sollen/müssen, gehören zum Standardrepertoire.

Auch dass die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen und Jobcenter - um Diskrepanzen zwischen angegebenen und vermuteten Aspekten des Lebens zu finden - fleißig das Internet bemühen, ist keineswegs neu. ALG-II-Leistungsempfänger mit eigener Internetpräsenz/Blog schreiben schon seit längerem, dass die Mitarbeiter der Leistungsbehörde gut über die diversen Aktivitäten im Internet informiert sind.

Dass bei einem konkreten Verdacht auf Leistungserschleichung die sanktionsfreudigen Behörden die Möglichkeiten des Internet nutzen, ist eine Sache. Dass sie für Zitate nun auch Stellungnahmen einfordern, egal wie provokant die Zitate sind, ist eine andere. Die Informationen über Vermögen und Einkünfte, die üblicherweise aber bereits 2009 eingeholt worden sein dürften, sind noch verständlich, die persönliche Meinung des Leistungsempfängers bzw. deren Äußerung, spielt jedoch bei der Leistungsgewährung keine Rolle.

Einfach ausgedrückt: Dankbarkeit bzw. Undankbarkeit sind keine Aspekte, die zur Klärung einer Vermögens- oder Einkunftsfrage von irgendeinem Belang sind. Dass die Behördenmitarbeiter trotz der auch in Berlin zahlreich vorhandenen Leistungsempfänger, die zu betreuen, verwalten, finanzieren und kontrollieren sind, noch Zeit finden, sich im Internet umzuschauen und für Zitate Stellungnahmen zu verlangen, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Prioritätensetzung bei den Verantwortlichen sowie auf deren Geisteshaltung, die von Gutsherrendenken geprägt ist.