"Green on blue"

Verdachtsmomente, Unterwanderung und die Rede vom "Turning Point": Zum Tod der amerikanischen Militärberater, die gestern im Kabuler Innenministerium erschossen wurden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Gestern nachmittag klang die Nachricht im Rundfunk wie eine Szene in einem Thriller: In einer hochgesicherten Abteilung des afghanischen Innenministeriums, wo sich westliche und afghanische Militärkommandeure zu Besprechungen treffen, wurden zwei US-Militärberater erschossen, hieß es. Dazu wurde die Mutmaßung gestreut, die sich auf ungenannte Quellen stützte, wonach den Schüssen eine lautstarke Auseinandersetzung vorangegangen sei. Vorsichtig wurde angefügt, dass der Zwischenfall möglicherweise mit der Koranverbrennung in Zusammenhang stehe.

Die Szene passt gut in das Bild, welches in den letzten Tagen aus Afghanistan vermittelt wurde: Dass sich dort seit der Nachricht von der Koranverbrennung ein Flächenbrand ausbreite, der zutage bringe, wie sehr sich inzwischen die Spannungen zwischen Teilen der Bevölkerung und den internationalen Truppen verschärft haben. Dass sich die Spannungen auch in die afghanische Armee hinein fortsetzen und es zu Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der ANA und der ISAF bzw. US-Truppen kommt, erscheint nicht unplausibel.

Umso mehr, als es derzeit Verhandlungen zwischen den USA, der Nato und Afghanistan gibt, wie die Sicherheitpolitik nach dem Abzug der Truppen im nächsten Jahr aussehen soll. Ein Abkommen darüber, welche Truppen bleiben und welche Aufgaben sie übernehmen sollen, was sie dürfen etc., ist längst nicht in "trockenen Tüchern". Es geht um die Souveränität Afghanistans und um geostrategische Interessen der USA, das ist ein empfindliches Thema, in dem auch Militärberater eine gewisse, nicht unwichtige Rolle spielen. Der gestrige Zwischenfall dürfte da einige Schockwellen produziert haben. Entsprechend gespannt kann man sein, ob der tatsächliche Hergang des Zwischenfalls und seine Hintergründe ans Licht kommen.

Eine offizielle Stellungnahme dazu, wer der Schütze war, gebe es noch nicht, berichtet die New York Times. Aus einem E-Mail, das vom Nato-Hauptquartier an westliche Vertreter geschickt wurde, würde lediglich hervorgehen, dass es sich um einen "green on blue"-Zwischenfall handele. Der militärische Ausdruck stehe für einen bewaffneten Angriff von afghanischen Sicherheitskräften auf westliche Soldaten. Solche Zwischenfälle gibt es öfter - was jedesmal zum Verdacht führt, dass die afghanischen Truppen unterwandert sind, von Taliban-Kämpfern.

Laut CNN, das sich auf einen anonyme Quelle, einen Offiziellen aus afghanischen Anti-Terror-Kreisen, stützt, soll der Schütze identifiziert sein. Der flüchtige Abdul S. soll ein Angestellter der Geheimdienstabteilung des afghanischen Innenministeriums sein, weswegen er sich trotz Waffe mühelos Zugang verschaffen konnte. Abdul S. soll demnach eine niedrige Position im Geheimdienst bekleiden und Verbindungen zu einer pakistanischen Religionsschule haben. Zwei Monate lang soll er in einer pakistanischen Madrassa verbracht haben, woraus man schließt, dass der Vorfall "zu 100 Prozent" mit der Koranverbrennung in Zusammenhang stehe.

Auch BBC nennt den Namen Abdul S. als Hauptverdächtigen in der Sache. Dort wird er als "police intelligence officier" bezeichnet. Er sei für Sicherheitsmaßnahmen verantwortlich gewesen und habe Zugang gehabt zu sicheren Funkverbindungen, die vom Militär genutzt werden. Anderswo heißt es, dass der Verdächtige 2007 als Fahrer beim Innenministerium angestellt wurde und sich seither emporarbeiten konnte.

Der Vorfall selbst wird in mehreren Berichten etwas anders geschildert, als dies die eingangs genannte Rundfunknachricht gestern tat: Von einem lautstarken Streit ist nicht mehr die Rede. Es wird lediglich berichtet, dass der Täter das Feuer in einem sicheren Raum im Ministerium in nächster Nähe auf die zwei Männer, angeblich einen amerikanischen Colonel und einen Major, eröffnete. Es sei auch nicht sicher, ob der Schütze tatsächlich Abdul S. ist. Zum Hauptverdächtigen mache ihn vor allem sein Verschwinden. Man gehe davon aus, dass er auf der Flucht sei.

Eindeutig zur Tat bekannt haben sich laut amerikanischen Medienberichten die Taliban, die die Morde mit Rache wegen der Koranverbrennung begründen. Damit kommt auch ein anderer Verdacht ins Spiel - dass die afghanischen Sicherheitskräfte möglicherweise mehr unterwandert, bzw. von den Taliban infiltriert sind, als man annehmen mochte; zwar hat es diesbezüglich immer Warnungen gegeben, andrerseits war das US-Militär sehr bestrebt, möglichst gute Zahlen über den Personalstand bei den Sicherheitskräften angeben zu können.

Welche Version des Tathergangs sich in den nächsten Tagen als die wahrscheinlichste erweisen wird oder auch nur als die offizielle bekannt gegeben wird, der "Zwischenfall" und seine Konsequenzen, die längst noch nicht absehbar sind, führt sehr deutlich vor Augen, wie groß die Gräben in Afghanistan sind, die sich zwischen den internationalen Verbündeten und einheimischen Kräften auftun.

Die Animositäten, welche sich in den letzten fünf Tagen Luft verschafft haben, könnten ein Wendepunkt sein, wird Martine van Bijlert zitiert. Sie ist Mitglied des Afghanistan Analysts' Network, wo man in ihrem Blog kenntnisreiche und genaue Beobachtungen über die Entwicklungen verfolgen kann.

"It has never been as bad as this and it could be a turning point in the West's 10-year mission in the war-torn country.“

Einige hundert Militärberater aus der Nato und auch aus amerikanischen Militärs, außerhalb des Nato-Kommandos sollen in beinahe jeder Abteilung der afghanischen Sicherheitsministerien "eingebettet" sein - "They work on everything from logistics and weapons training to strategic planning." Der ISAF-Kommandeur General Allen hat nun die ersten abgezogen. Wie lange werden die anderen noch bleiben?