"Die Deutschen werden so alt wie nie zuvor, ein Ende ist nicht in Sicht"

Nach dem Demografieprofessor Roland Rau wächst die Lebenserwartung jedes Jahrzehnt kontinuierlich um 2,5 Jahre - seit 160 Jahren

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Nach Roland Rau, der den Lehrstuhl für Demografie an der Universität Rostock innehat, hat sich in den letzten Jahrzehnten bei den Menschen, die das 80. Lebensjahr erreicht haben, die Lebenserwartung deutlich gesteigert. Unerwartet schnell sei die Zahl der Hundertjährigen - der Höchstaltrigen - angestiegen oder hat sich die Sterblichkeit der Achtzigjährigen seit 1960 etwa halbiert. Vor 1960 starben von hundert achtzigjährigen Frauen 11, bevor sie 81 wurden, jetzt sind nur noch 4. Rau führt die schnell sinkende Sterblichkeit darauf zurück, dass immer weniger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben, und spricht von einer "kardiovaskulären Revolution". Herzkrankheiten könnten nicht nur besser medizinisch behandelt werden, die Menschen wüssten auch besser über die "eigene Gesundheit" bescheid. Und natürlich sei auch der Lebensstil für das Erreichen eines höheren Alters entscheidend.

Seit 160 Jahren geht es kontinuierlich nach oben mit der Lebenserwartung. In jedem Jahrzehnt steigt sie um 2,5 Jahre an. "Frauen im Alter von heute 86 Jahren" seien, erläutert Rau, "so gesund wie 80-jährige Frauen vor 50 Jahren". Erstaunlich ist, dass sich bei einer gesellschaftlichen Systemveränderung die Lebenserwartung schnell anpassen kann. So lag die Lebenserwartung der Frauen in Ostdeutschland 1990 noch bei 76 Jahren, während sie bei den Frauen in Westdeutschland bei 79 Jahren lag. Seit 2005 gebe es keine relevanten Unterschiede mehr, derzeit liegt die Lebenserwartung durchschnittlich bei 82,5 Jahren. Der Ursache für die schnelle Aufholjagd der Frauen aus Ostdeutschland ist nicht bekannt. Die Herz-Kreislauf-Sterblichkeit hat sich seit 1980 in Westdeutschland halbiert, auch hier hat man sich in den ostdeutschen Bundesländer dem angenähert. Rau führt zwei Hypothesen an: Die Menschen könnten mehr Geld haben, um sich besser zu ernähren, oder die medizinische Versorgung ist besser geworden.

Aber man könnte viele weitere Gründe finden, die hereinspielen könnten: eine weniger belastete Umwelt, bessere und vielfältigere Lebensmittel, ein anderer Lebensstil, der mehr auf Selbstverantwortung und Gesundheit setzt, weniger Repression/Kontrolle und mehr Freiheit, Veränderung der Arbeitswelt, stärkere Individualisierung …. Wenn allerdings die Lebenserwartung kontinuierlich und nicht sprunghaft wächst (und zeitweise wieder zurückgeht), dann kann dies nicht gnetisch begründet werden. Es müsste Ursachen geben, die sich kontinuierlich so verbessern, dass sie die Lebenserwartung allmählich steigern. Hier gibt es, ausgehend von der interessanten Tatsache, dass sich die Unterschiede zwischen der Bevölkerung Ost- und Westdeutschlands so schnell geschlossen haben, zweifellos viel Raum zum Spekulieren und zum Forschen.

Mit der sinkenden Fertilität schreitet jedenfalls die Vergreisung der Gesellschaft munter voran. Und bislang zumindest kann man davon ausgehen, wenn alles so bleibt, wie es ist - was ist beispielsweise mit der wachsenden Einkommenskluft? -, dass die Hälfte der jetzt Geborenen 100 Jahre alt werden kann. Man kann sich vorstellen, was das bedeutet. Dann müssen die Menschen, sofern sie dies können, vermutlich nicht nur deutlich länger arbeiten, um nicht in die Altersarmut zu rutschen und die Rentensysteme irgendwie am Laufen zu halten, wenn nicht doch einmal die in den 1960er Jahren erwartete Konsumgesellschaft kommt, in der endlich die Roboter die meisten Arbeiten, inklusive die Altenversorgung, übernehmen und der Wohlstand einigermaßen gleichmäßig verteilt wird. Darauf wird man noch lange warten müssen, schließlich ist entgegen der futuristischen Erwartungen die Arbeitszeit für die Menschen nicht weniger geworden, sondern es wird mehr oft unter stressigeren Bedingungen und schlechter bezahlt als in den Zeiten des Wirtschaftswunders. Eher muss man damit rechnen, bis ins Greisenalter Kind zu bleiben, selbst wenn man bereits selbst Kinder, Enkel oder Urenkel hat. Das dürfte nicht immer der Psyche derjenigen nicht gut tun, die 70 oder 80 Jahre warten müssen, aus dem Kindesalter herauszuwachsen.