Erdogan und die Toleranz

Steiger Award: Wie aus einem Gala-Abend ein hochgeputschtes Politikum wurde

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Es ist eine ziemlich bunte Mischung an Preisträgern, zu denen der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gehören sollte: Peter Kloeppel, Hannes Jaenicke, Christine Neubauer, Lou Reed, Wolfgang Joop, Silvia von Schweden und Horst Köhler klettern heute abend auf eine Bochumer Bühne, um den Steiger Award entgegenzunehmen. Der ehemalige Bundespräsident Köhler - und nicht Erdogan - bekommt den Preis in der Kategorie Toleranz zugesprochen. Aus welchem Grund, das geht aus den Informationen der Bochumer Preisverleiher nicht hervor, aber man kann davon ausgehen, dass Köhler bei einer etwaigen Preisrede wie in den meisten seiner Reden solide Harmlosigkeit durch unverfängliches Herumstreifen im Floskelwald garantiert. Wie ja auch die Preisträgerliste eigentlich einen harmlosen Galaabend garantiert - bis auf den Preisträger in der Kategorie Europa, Erdogan.

Der türkische Ministerpräsident hat nun abgesagt. Als offizieller Grund wird der Absturz eines Militärhubschraubers in Afghanistan mit 17 Todesopfern genannt. Bei dem Absturz in ein Wohnhaus in Kabul kamen 12 türkische Soldaten und fünf afghanische Zivilisten ums Leben, das ist eine Tragödie, die „den mit Abstand schwersten Verlust der Türken in dem Einsatz am Hindukusch“ darstellt. Ein guter Grund, um die Gala abzusagen, die zu einem Politikum geworden ist. Wieviele werden am heutigen sonnigen Frühlingstag dennoch auf die Straße gehen, um gegen die Preisverleihung an Erdogan zu protestieren?

Eine Preisvergabe in Abwesenheit gibt es nicht, heißt es von Seiten der Initiatoren des Steiger-Preises. Erdogan wird den Steiger-Award also nicht erhalten, wird er trotzdem weiter auf der Liste der Preisträger bleiben? Wie wichtig sind solche Fragen? Wenn es um Toleranz geht, anscheinend massentauglich wichtig.

Die Verbindung Toleranz und Erdogan erregt die Gemüter. Die Meldungen über die Preisverleihung sprechen davon, dass Erdogan ein "Toleranzpreis" verliehen wird. Bei Springer stellte man dem "Toleranzpreis" noch den Begriff "Massenproteste" bei, um keinen Zweifel an der Ungeheuerlichkeit aufkommen zu lassen. Auch der Spiegel schrieb vom "Toleranz-Preis" und Aufrufen zu Großdemonstrationen. Und der CSU-Generalsekretär Dobrindt nutzte die Gelegenheit für eine populistische Verbal-Watschn Richtung Ruhrpott:

"Einen Toleranz-Preis ausgerechnet an Erdogan zu vergeben, ist eine bizarre und geschmacklose Fehlleistung. Erdogan hätte einen Preis für Intoleranz verdient."

Menschenrechtsorganisationen, kurdische, armenische, assyrische und alevitische Verbände protestierten mit Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung von Minderheiten in der Türkei unter dem Ministerpräsidenten Erdogan und auch der Deutsche Journalisten-Verband äußerte sich gegen die Verleihung des Steiger-Awards an Erdogan. Die Alevitische Gemeinde Deutschland rief für heute zu Demonstrationen auf. Bis zu 30.000 Teilnehmer sollen kommen, heißt es.

Erst später kamen die Meldungen, die das Bild vom "Toleranz-Preis" etwas berichtigten. Erdogan bekkomt gar nicht den Preis in der Kategorie "Toleranz". Laut offizieller Begründung, wie sie auf der Website der Preisverleiher zu lesen ist, wird der Steiger-Preis an Erdogan in seiner Funktion als Ministerpräsident der Türkei in der Kategorie "Europa" verliehen: "für 50 Jahre deutsch-türkische Freundschaft stellvertretend für das türkische Volk".

Das passt aber nicht ganz so gut in das bereits begonnene Skript, weswegen nun in beinahe allen Berichten darauf verwiesen wird, wie wichtig die Toleranz grundsätzlich für den Preis ist:

"Der Steiger Award ist Preis und Philosophie zugleich. Wir ehren Persönlichkeiten, die sich durch Geradlinigkeit, Offenheit, Menschlichkeit und Toleranz auszeichnen."