Von Feinden umstellt

Folgt man André Glucksmann, dann wiegt ein lahmer Westen, der das Kämpfen verlernt hat, sich in einem gefährlichen Schlaf, der Ungeheuer hervorbringen wird

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Ist die Geschichte an ihr Ende gekommen? Sind die "blutigen Schlachten", die um Macht, Stolz, Ehre und Würde geschlagen? Bewegt sich die Welt, wenn auch in stolpernden und hinkenden Schritten, auf eine globale Herrschaft der "liberalen Demokratie" und des "okzidentalen Rationalismus" (Max Weber) zu? Oder erwachsen dem westlichen Freiheitsmodell im "Islamo-Faschismus" und in den "Autokratien" im Osten neue Rivalen und Feinde, die dem Westen eine neue "ideologische" und möglicherweise auch "tödliche" Konfrontation aufzwingen?

"Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken. Die Schrift sagt, es ist keine Sünde zu hinken."(Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips)

Des Kämpfens müde

Diese, alles andere als rhetorisch gemeinten Fragen, die der französische public intellectual André Glucksman neulich im Interview mit Welt Online aufwarf ( Deutschland ist immer noch ein politischer Zwerg), regen offenbar immer noch diverse Geistesarbeiter zu Spekulationen an. In der jüngeren Vergangenheit waren das so unterschiedliche Denker wie Alexandré Kojève und Francis Fukuyama. Aber auch auf Arnold Gehlen und Jean Baudrillard, auf Jacob Taubes und Carl Schmitt, auf Peter Sloterdijk und Slavoj Zizek ( Napoleons Wiedergänger) wirkte das Posthistoire-Theorem immer wieder anziehend.

Verwundern sollte dies allerdings niemanden. Zumal die Behauptung, dass 1806, nach der "Schlacht von Jena", durch den Code Napoleon alle weiteren "Kämpfe ums Prestige" obsolet geworden wären, bereits von Hegel so elastisch formuliert worden war, dass Jahrhunderte später die sich abzeichnende Systemkonvergenz von Kapitalismus und Sozialismus und der globale Siegeszug des demokratischen Liberalismus nach dem Ende der bipolaren Welt mühelos darunter verbucht werden konnten.

Diese Faszination, die das "Ende der Geschichte" nach wie vor entfaltet, scheint auch für André Glucksmann zu gelten. Befragt zum islamistischen Terror, zu den Nazi-Morden in Deutschland und auf der Insel Utoya sowie der "Leutseligkeit" der Sicherheitsbehörden gegenüber all diesen Bedrohungen, erklärte Glucksmann:

"Die westliche Welt leidet an einer Krankheit, die aus dem Glauben kommt, an das Ende der Geschichte gelangt zu sein. Wenn man sich aber am Ende der Geschichte wähnt, hat man keinen wirklichen Feind, existiert kein wirkliches Risiko mehr."

Sorgloser Freudentaumel

Erst durch die "Feindlosigkeit", mithin durch die "Blindheit", Müdigkeit und Kampfesunlust der Leute sei es also laut Glucksmann zu den großen Krisen gekommen, die derzeit die westlichen Vorstellung von Frieden, Freiheit und sozialer Demokratie in Frage stellten. Dabei habe es frühzeitig Anzeichen gegeben, dass der Feind nicht nur vor unseren Toren lauere, sondern bereits mitten unter uns wohne. Man hätte sich nur mehr Mühe geben und intellektuell anstrengen müssen, dann hätte man sie auch rechtzeitig lesen und deuten können.

Im Anschlag auf das World Trade Center anno 1993 etwa oder im Bombenattentat 1995 auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City durch den US-Veteranen Timothy McVeigh hätte man Nine-Eleven ansatzweise schon erkennen können. Und auch in den großen Finanzkrisen von 1985 und 1997 in den USA und Asien hätten sich der Finanzcrash von 2008 und die Staatsverschuldungskrisen in Europa und den USA schon angekündigt. Nur wollte das damals im Freudentaumel über den vermeintlichen Siegeszug der liberalen Demokratie niemand so recht hören und diese Vorkommnisse als Vorboten großer Krisen deuten.

Unheilssemantiken

Neu sind solche Erkenntnisse natürlich nicht. Im Nachhinein ist man bekanntlich immer schlauer. Nicht zufällig beginnt die Eule der Minerva auch erst in der Dämmerung mit ihrem Flügelschlag. Doch was ist mit solchen Vorahnungen in der Sache gewonnen? Gibt es nicht bereits viel zu viele Kassandren, die von Klima- und demografischen Katastrophen künden, von nuklearer Verseuchung und vom Zusammenbruch der Geld-, Finanz- und Sozialsysteme?

Und haben solche Stimmungslagen und Unheilssemantiken nicht schon in der Vergangenheit, man erinnere an das einst prophezeite Waldsterben, den Verkehrsinfarkt oder den Atomtod, nicht gestimmt? Gehört nicht das Spielen mit der Apokalypse längst zum Alltagsgeschäft vermeintlicher oder besserwisserischer Propheten?

Darum verwundert es auch nicht, dass sich das französische Orakel schnell in einen performativen Widerspruch verstrickt. Denn aus all den Argumenten und Beispielen, die Glucksmann uns ans Herz legt, geht nicht hervor, ob die westliche Demokratie nun weltweit auf dem Vormarsch ist oder ob sie nicht doch von kollektiven und technokratischen Systemen in die Defensive gedrängt wird und gar dabei ist, ihre Attraktivität und Vorbildwirkung auf andere (Soft Power) zu verlieren.

Feindlosigkeit

Einerseits will Glucksmann von einer "generellen Schwäche des Westens" nämlich gar nichts wissen. Der Einfluss des Westens habe im letzten halben Jahrhundert eher zu- als abgenommen, meint er. So habe Südeuropa den Faschismus besiegt, Osteuropa sich vom Joch des Totalitarismus befreit, und auch in Nordafrika hätten die arabischen Völker sich ihrer Despoten entledigt. Ob das allerdings in Nordafrika in eine Demokratisierung der Region umschlagen wird, ist fraglicher denn je. Ein Jahr nach Beginn der Aufstände in Tunis, Kairo und Bengasi drohen die Länder in blutige Stammesfehden und erbitterte Machtkämpfe zwischen Rebellen und Islamisten, Militärs und zivilen Kräften zu zerfallen.

Andererseits gäbe es für den Westen eine wachsende Anzahl neuer Feinde und Gefahren. Neben dem islamistischen Terror und der Verschuldungskrise eben auch und vor allem die Bedrohung durch das Erfolgsmodell einer "gelenkten Demokratie", wie sie Russland und China repräsentierten. Doch statt für ihre Ideen und ihre Existenz leidenschaftlich zu kämpfen, wolle man im Westen lieber schlafen und die "Sonntage des Lebens" (Hegel) genießen. Nicht zufällig hätten zwei Tschetschenen sich den Erschießungen durch den Norweger Anders Breivik widersetzt, während sich andere eher willenlos ihrem Schicksal ergeben hätten.

Zwar sei es neulich gelungen, eine militärische Font gegen Gaddafi zu schmieden und den Despoten aus dem Amt zu bomben. Doch von vielen anderen "essenziellen Gefahren" wolle man hingegen nichts wissen. Weder bestünde in Europa Einigkeit, wer seine Feinde seien, noch wo sie sich befänden. Diese Blindheit gegenüber Bedrohungen unterscheide die heutigen europäischen Führer von den Gründern der EU, die noch eine klare Vorstellung hatten, wofür und wogegen sie kämpfen wollten. Demzufolge hätten sie auch die Einigung Europas auf drei Anti-Haltungen gebaut, auf Anti-Faschismus, Anti-Kommunismus und Anti-Kolonialismus.

Lieblingsfeind Putin

So ist die neu eröffnete Ostseepipeline in den Augen Glucksmanns ein "Projekt von höchster geopolitischer Bedeutung". Mit ihr eröffne sich nicht nur eine "Achse Moskau–Berlin–Paris, die sich über Länder wie Polen, Ukraine und die baltischen Staaten" hinwegsetze, sie ermögliche Russland langfristig auch eine "fast völlige Kontrolle der Energieversorgung der EU".

Wie überhaupt Vladimir Putin der erklärte Lieblingsfeind Glucksmanns zu sein scheint ( Die russische Krankheit). In gewisser Weise scheint sein politisches Engagement für den tschetschenischen "Unabhängigkeitskrieg" noch nachzuwirken. Für ihn waren die tschetschenischen Selbstmordbomber niemals Terroristen, die sich ähnlicher hinterhältiger Praktiken und Methoden bedient hätten wie ihre arabischen "Kollegen", sondern allesamt Freiheitskrieger.

Den "Schlächter des Kaukasus", wie er Putin gern tituliert, hält er zwar nicht für ganz so gefährlich wie Stalin, aber doch mindestens so gefährlich wie Breschnew, der, wie wir uns erinnern, Sinnbild und Prototyp des Kalten Kriegers war. Worauf diese Einschätzung beruht, kann Glucksmann uns allerdings nicht deutlich machen. Über Putin lässt sich gewiss manches sagen. Dass er machtbewusst und kein lupenreiner Demokrat ist, dass er sein politisches Handwerk beim KGB gelernt hat und Gegner und Rivalen nicht gerade mit Samthandschuhen anfasst.

Aber dass er sich im Land "wie ein Petro-Zar" gebärde, den Kalten Krieg wieder aufleben und Gas und Öl als Waffe einsetzen wolle, um Europa damit gefügig und einen Keil in die transatlantischen Beziehungen treiben zu wollen, ist nicht nur sehr weit hergeholt, sondern selbst noch Teil jenes Kalten Krieges, den Glucksmann seit seiner Abrechnung mit der Sowjetunion Mitte der siebziger Jahre ("Köchin und Menschenfresser") mit dem Land führt. Offenbar scheint der ehemalige Maoist und spätere erbitterte Gegner des Totalitarismus selbst noch in Kategorien des Kalten Krieges und in klaren Freund-Feind-Strukturen zu denken.

Achse der Destruktivität

Ob der "Putinismus", wie Glucksmann das nennt, ein Segen oder Fluch für Russland sein wird, lässt sich aus heutiger Perspektive nicht sagen ( Zwischen Russophobie und Russophilie). Immerhin hat er aber den Niedergang Russlands unter Boris Jelzin gestoppt ( Der Bär zeigt wieder Krallen) und das Riesenreich wieder als Großmacht etabliert, das im globalen Spiel der Mächte mit gewichtiger Stimme spricht.

Damit das auch so bleibt, und das Land nicht wieder zurückfällt, braucht er den Westen genauso wie der Westen die Energiereserven Russlands. Ohne die Produkte und das technische Wissen Europas, kann er sein Land nicht nach vorn bringen. Deswegen hat er, auch auf sein Betreiben hin, jetzt endlich, nach immerhin achtzehn Jahren zähen Verhandlungen, Russland in die WTO geführt hat, um die Handelsvorteile, die das mit sich bringt, zu nutzen.

Und dass Putin gleichzeitig versucht, auch die asiatische Karte zu spielen, um mit Peking eine politische Achse zu bilden, die eine Balance zum Machtanspruch des Westens darstellt, kann man ihm politisch sicherlich nicht verübeln. Eine solche geopolitische Umsicht und Klugheit würde man von jedem anderen russische Führer auch erwarten, zumal es jedem politisch Verantwortlich immer auch darum gehen muss, seinem Land alle Optionen offen zu halten, nach Osten und Süden wie nach Westen.

Hier von einer "Achse der Destruktivität" zu sprechen, wie Glucksmann uns mit Blick auf die Blockadehaltung die beiden Mächte in Sachen Iran und Syrien vermitteln will, vergisst, dass der Westen an diesem Abwehrverhalten möglicherweise selbst eine gehörige Portion Mitschuld trägt. Denn durch sein eigenes, völkerrechtlich unsauberes Handeln in der Libyen-Frage haben die Westmächte selbst maßgeblich zu diesen Vorbehalten in Moskau und Peking beigetragen.

Systemkonvergenzen

Lässt man mal alle persönlichen Motive außer acht (offensichtlich würde Glucksmann gern in einer Anti-Russland-Front eine ähnliche Rolle spielen, die Bernard Lévy neulich im Aufbau der Anti-Gaddafi-Front eingenommen hat, als er seinen Präsidenten zur militärischen Intervention gegen den arabischen Despoten bewegen konnte), dann muss man in der Sache natürlich feststellen, dass mit dem wirtschaftlichen Erfolg, den die "gelenkten Demokratien" gegenüber den "liberalen Demokratien" in den letzten Jahren eingefahren haben, die Rivalität und die Konkurrenzsituation gewachsen ist.

Durch die "Staatsverschuldungskrise" hat das Ansehen des westlichen Freiheitsmodells nicht nur weltweit gelitten, es wird für jedermann auch deutlich, dass seine Erfolgsstory auf finanziell tönernen Füßen steht und nun von Experten und Technokraten an der Spitze der Regierungen gerettet werden muss. Und mit dem "sanften Monster Brüssel" (H. M. Enzenberger) und den "Durchgriffsrechten", die Europas Führer den EU-Kommissären im Zeichen der Krise erlauben, schwindet zunehmend auch die politische Besonderheit, die eine "liberale" vor einer "gelenkten Demokratie" auszeichnet.

In gewisser Weise könnte man sagen, dass sich hier eine schleichende "Systemkonvergenz" zwischen westlichen und östlichen Staaten ankündigt, die post WK II schon den EU-Bürokraten Kojève beobachtet und als Bestätigung für seine Theorie vom "Ende der Geschichte" herangezogen hat ( Die Eule der Minerva).

Überspitzt könnte man formulieren, dass die beiden politischen Systeme nur noch die Schuldenproblematik unterscheidet. In dieser Frage schneiden die "Autokratien" sogar weit besser ab als das "liberale Modell". Schlimmer noch: die liberalen Demokratien sind gezwungen, sich von diesen finanziell "hebeln" zu lassen, um frisches Geld von Investoren für neue Kredite und zur Begleichung ihrer Schulden zu bekommen.

Wahre Demokratie jetzt

Wer nun glaubt, dass sich die Schuldenproblematik mit strikter Kapitalismuskritik und dem Ruf nach einer "echten" oder "wirklichen", "direkten" oder gar "wahren Demokratie" "von unten" entschärfen und lösen lasse, sitzt einem Trugschluss auf. Er verkennt, dass der wirtschaftliche Sachverstand, der dazu nötig wäre, weder beim Volk auf der Straße noch bei den Okkupisten in den Bank- oder Regierungsviertel oder gar bei irgendwelchen Philosophen oder Bloggern vorhanden ist.

Mal abgesehen davon, dass all die Experten, Ökonomen, Bürokraten und Technokraten, selbst uneins sind, wie man die Krise am besten ohne größere Schäden beheben könnte. Den Kapitalismus abschaffen - das ist leicht und schnell dahergesagt. Doch was folgt auf ihn ( Kapitalismus als Abwicklungsfall)?

Etwa die Verstaatlichung der Wirtschaft und die Vergemeinschaftung der Schulden und von Privatbesitz, die Staatsknete und Wohlstand für alle ( Postpubertäre Revolutionslyrik) und Frau Wagenknecht, Herr Geißler und der Papst als höchste moralische Instanzen an der Spitze einer neuen Weltregierung? Gott möge uns vor solchen Krisenmanagern bewahren. Da würde dann wirklich nicht einmal mehr beten helfen.