Fukushima Reaktor eine Mini-Atombombe?

Die unkontrollierte Kettenreaktion im Reaktor 2 des zerstörten Atomkraftwerkes könnte sich aufschaukeln

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Die Lage in den havarierten Reaktoren im japanischen Fukushima ist weiterhin offensichtlich alles andere als unter Kontrolle. Wie schon im Mai wird nun Wasser mit zehn Tonnen Borsäure in den Reaktor 2 geleitet. Denn dort kommt es offensichtlich zu stabilen, aber unkontrollierbaren Kettenreaktionen.

Mit der Borsäure soll die Kettenreaktion aufgehalten werden. Denn bei Messungen zuvor waren Radioisotope 133 und 135 des Gases Xenon festgestellt worden. Die können nicht aus den Vorgängen nach dem Unfall im März 2011 stammen, denn die Halbwertzeiten sind nur Tage oder Stunden. Allerdings versucht die Betreiberfirma das Problem wieder einmal klein zu reden. Vielleicht habe es sich um eine irrige Messung gehandelt und es gebe keinen systematischen Anstieg der Zerfallsprozesse. Als Erklärung wurde auch geliefert, das radioaktive Xenon sei auf eine "spontane Spaltung" zurückzuführen, wie sie in jedem stillgelegten Reaktor auftrete.

Trotz aller Beschwichtigungsversuche ist eine Debatte darüber entstanden, was daraus im schlimmsten Fall passieren könnte. Zumeist wird davon ausgegangen, dass bei einem Aufschaukeln des Reaktors die Temperatur und der Druck so stark ansteigen und bei einer erneuten Explosion das Reaktorgebäude noch schwerer beschädigt werden könnte. Der Münchner Strahlenexperte Prof. Edmund Lengfelder hat nun aber die Bandbreite ausgeweitet. Er japanische-atomruine-wissenschaftler-warnt-vor-miniatombombe-in-fukushima/60125512.html: spricht von der Möglichkeit einer nuklearen Explosion.

Nach seiner Ansicht könnte sich "eine Art Atombombe im Minimaßstab" bilden, sagte Lengfelder. Über Wahrscheinlichkeiten will sich der Experte nicht äußern, weil niemand wisse, wie viel angereichertes Uran auf welche Weise in den havarierten Atomkraftwerksblöcken zusammengeflossen sei.

"Es gibt dort eine spontane Kernspaltung - da kann alles passieren, auch wenn man sagt, es ist nicht wahrscheinlich. Aber was von Aussagen über Wahrscheinlichkeiten zu halten ist, haben wir am 11. März gesehen."

Schließlich wurde damals auch als unwahrscheinlich eingeschätzt, dass es zu einem Erdbeben dieser Stärke und einem Tsunami dieser Höhe kommen könnte. Tatsächlich haben wir auch aus den Vorgängen in den letzten acht Monaten gelernt, dass den Angaben der Betreiberfirma Tepco und der Aufsichtsbehörde Nisa genauso wenig zu trauen ist, wie denen der Regierung. Stets wurde versucht, die Vorgänge zu verschleiern oder klein zu reden. Nur scheibchenweise kam das Ausmaß der Katastrophe an Licht.

Zunächst nur von einer "partiellen Kernschmelze" gesprochen, dann wurde der Super-Gau in drei Reaktoren zugegeben. Sogar seit den 1970er Jahren ist bekannt, dass der Reaktortyp schon konstruktionsbedingt Notkühlprobleme hat. Und mittlerweile ist eigentlich auch klar, dass mindestens einer der Reaktor schon das Erdbeben nicht ausgehalten hat.

Lengfelder ist der Überzeugung, dass die partielle Sperrzone in einem Umkreis von 50 Kilometern viel zu klein sei. Er fordert, dass sie mindestens auf 100 Kilometer in die Hauptwindrichtung Nordwest ausgeweitet werden müsse. Der Strahlenexperte kritisierte erneut, dass die Regierung die Strahlen-Grenzwerte für Kinder auf 20 Millisievert pro Jahr heraufgesetzt hat.

"Das ist in Deutschland die maximale Strahlenbelastung für einen Atomkraftwerksarbeiter - aber nichts für ein Kind."

Zu erwarten sei, dass die Krebsrate bei den Kindern massiv steigen werde und bei Neugeborenen seien Fehlbildungen zu befürchten. Den Umgang mit der Bevölkerung bezeichnete Lengfelder als "menschenverachtend".

Das gelte nicht nur für den Umgang mit der Strahlung, sondern auch dafür, dass in so einem reichen Land wie Japan noch immer Leute in Turnhallen leben müssten. "Das gab es nicht einmal bei den Sowjets." Dort sei die Evakuierung nach der Katastrophe von Tschernobyl wesentlich besser über die Bühne gegangen. Die Grenzwerte seien heute etwa in Weißrussland sogar dreimal strenger als in Deutschland, sagte der Atomexperte, der nach dem Super-Gau in Tschernobyl vor 25 Jahren die Gesellschaft für Strahlenschutz und das Münchner Otto Hug Strahleninstitut gründete.

Angesichts der Verschleierungspolitik in Japan geht er auch von Todesfällen bei den Arbeitern aus, die zum Aufräumen in der havarierten Anlage eingesetzt werden. "In Analogie zu Tschernobyl muss man davon ausgehen." Skeptisch ist er darüber, ob man bei den japanischen Opfern mehr Klarheit bekommen wird als bei denen in und um Tschernobyl. Lengfelder fordert die sofortige Abschaltung aller Reaktoren.

"Nachdem sie nicht angemessen versichert sind, heißt das im Falle eines Super-Gaus: Der Bürger bleibt auf seinem Schaden sitzen. Erst hatten wir Tschernobyl, jetzt haben wir Fukushima - was brauchen wir noch?"

Tatsächlich zahlt der Steuerzahler in Japan auch Milliarden, um Opfer der Katastrophe zu entschädigen. Die Regierung hat am Freitag beschlossen, Tepco dafür mit umgerechnet 8,4 Milliarden Euro zu subventionieren. Bluten müssen dafür im Gegenzug auch die Beschäftigten, weil Tepco sparen muss. Unter anderem sollen Pensionen gekürzt und 7000 Stellen gestrichen werden. Der Konzern schreibt aber trotz der Subventionen weiter rote Zahlen. Allein im ersten Halbjahr 2011 hat er einen Verlust von umgerechnet etwa 5,7 Milliarden Euro eingefahren. Ein entsprechendes Gesetz zum Atomschadensausgleich belohnt den Konzern noch einmal für seine untragbare Sicherheitspolitik mit einer weiteren Milliarde.