Obama Revisited

Auch in den USA macht sich mittlerweile ein realistischeres Bild vom Präsidenten und seiner politischen Agenda breit

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Vor genau fünfzig Jahren besuchte John F. Kennedy, der damalige US-amerikanische Hoffnungsträger im Weißen Haus, West-Berlin, die Frontstadt im Kalten Krieg. Mit den Worten: "Ich bin ein Berliner" eroberte er nicht nur die Herzen der Berliner und Westdeutschen, der Satz bescherte ihm auch einen Dauerplatz in den Annalen der Bundesrepublik.

Auch im Juni besuchte Barack Obama die Stadt, die sich längst von der, die seinerzeit der Strahlemann Kennedy vorfand, grundlegend unterscheidet. Seit fast einem Vierteljahrhundert ist Berlin nicht mehr geteilt. Sie ist Hauptstadt eines starken und reichen Landes, dem Ambitionen auf eine Hegemonie in Europa nachgesagt, auf alle Fälle aber angetragen werden.

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Obama beim Besuch in Berlin. Bild: Weißes Haus/Pete Souza

Natürlich wurde auch er gebührend und mit viel Jubel empfangen. Die wichtigsten Medien des Landes richteten zu Ehren des Präsidenten Liveticker ein, die über jeden Schritt des US-Amerikaners und seiner Frau Michelle und den beiden Kindern Malia und Sasha penibelst Auskunft gab.

Die Begeisterung war groß, als er nach dem Auftritt des Geigers David Garrett unter der Hitze des Tages auf dem Rednerpult vor dem Brandenburger Tor mit einem "Hello Berlin!" seine Jacke auszog und in Hemdsärmeln und mit blauer Krawatte zu ausgewählten Bürgern der Stadt und des Landes sprach. Und sie schwellte noch an, als er die Geschichte von den "Rosinenbombern" wiederholte und sie mit freien Völkern, Menschenrechten und der Gleichheit der Menschen untermalte.

Ernüchterung wächst

Unter die Jubelgesten mischten sich aber bereits im Vorfeld Stimmen, die den Präsidenten und seine Politik eher kritisch betrachten. In den Texten war nichts mehr von einem "Messias" und jener Aufbruchstimmung zu lesen oder zu hören, die das "Yes, we can" und die Wahl Obamas zum ersten Präsidenten mit dunkler Hautfarbe noch vor fünf Jahren bei den Meinungsmachern hervorgerufen hatte. Die Ernüchterung, die seiner zweiten Amtsperiode folgte, war spürbar

Die "Vorschusslorbeeren", die man ihm einst zugebilligt hatte, die "großen Versprechen", die man ihm abgenommen hatte, konnte er jedenfalls nicht halten. Die Existenz des Gefangenenlagers in Guantanamo, der aufgedeckte Skandal um die NSA-Spähprogramme, die Jagd auf den NSA-Whistleblower Edward Snowden und WikiLeaks-Informant Bradley Manning sowie der Drohnenkrieg in Pakistan und Afghanistan haben nicht gerade das Ansehen des US-Präsidenten in der Welt gefördert, sondern eher ein recht zwiespältiges Bild von ihm vermittelt. Nicht nur hierzulande, sondern auch in den USA. Und da vor allem wegen der ungelösten inneramerikanischen Probleme.

Der Kaiser ist nackt

Schon vor Jahren hatte ihn Niall Ferguson, britischer Historiker in Harvard, als "wankelmütig" und "großen Versager" bezeichnet, der den Anforderungen einer Präsidentschaft nicht gewachsen sei. Vor einigen Wochen hat auch der Herausgeber des "National Interest", Robert M. Merry, versucht, in einem kleinen Essay den Mythos eines "moderaten" und politisch zurückhaltenden Präsidenten zu zerstören, der von der demokratischen Linken und Teilen der Nachrichtenmedien in Umlauf gebracht wurde und teilweise immer noch wird.

"In Wahrheit", so Merry, stelle er keine Ausnahme dar, sondern stünde für eine politische Ideologie, die mit jenem amerikanischen Mainstream übereinstimme, der über zwei Jahrhunderte lang die Geschicke der Politik des Landes bestimmt haben. Was ihn aber von allen seinen Vorgängern abhebe, ist, dass er für sein politisches Programm, das Kürzungen im Budget und Steuererhöhungen für die Bestverdienenden vorsieht, keinen nationalen Konsens finden kann.

Unfähig zu Kompromissen

Dies liege zumal an der ideologischen Spaltung, die der Nation von Haus aus zugrundeliegt und das Regieren jedes Präsidenten schwer macht. Möchten die Demokraten und Liberalen der Regierung mehr Macht und Einfluss zuschustern, fürchten die Konservativen einen solchen Machtzuwachs wie der Teufel das Weihwasser. Dies gilt nicht nur für ehemalige Präsidenten und ihre Administrationen, dies gilt erst recht für den einfachen Bürger, der sich entweder der einen oder der anderen Seite verbunden fühlt.

Obama wiederum gehört, im Gegensatz zu Thomas Jefferson, Andrew Jackson und Ronald Reagan, jener Traditionslinie von Präsidenten an, die die Macht der Regierung ausweiten und vergrößern möchten. Er möchte wie schon Franklin D. Roosevelt in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts "eine große Ära der Regierung" begründen. Seine rhetorische Hauptwaffe dabei ist laut Merry, ähnlich wie schon bei Roosevelt, eine "abträgliche Klassenhetze".

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Offensichtlich entspannt beim Gespräch mit den russischen Kollegen Putin am 12. Juli. Bild: Weißes Haus/Pete Souza

Der Kapitalismus als trojanisches Pferd

Allerdings unterscheide sich seine politische Agenda von der Roosevelts in mehreren Punkten. Zwar möchte auch er eine neue Steuergesetzgebung. Doch reicht sein Programm weit darüber hinaus, was etwa der New Deal anstrebte. Das gilt für die "Gesundheitsreform", auch "Obamacare" genannt, und die Regulierung der Finanzmärkte ebenso wie für die Förderung sauberer und alternativer Energien und die Ausweitung staatlicher Regulierung.

David Brooks, prominenter Beobachter und Leitartikler der "New York Times", hat dieses politische Programm, das Obama verfolgt, in den bemerkenswerten Satz verdichtet, der auch für andere westliche Regierungen gelten könnte. "Der Kapitalismus ist nur ein Futtertrog, den Regierungen verwenden, um ihre Expansion voranzutreiben."

Zugleich werde Obamas "Machtbegeisterung" von einer Überbetonung der Exekutive zuungunsten der Legislative und der Judikative begleitet. So habe er es sowohl bei der Militäraktion in Libyen als auch im Drohnenkrieg am Hindukusch oder bei bilateralen Verhandlungen mit der afghanischen Regierung versäumt, den Kongress zu konsultieren und in seine Entscheidungen einzubinden. Dass diese Institution deswegen nicht gut auf ihn zu sprechen sei, verstehe sich von selbst.

Ferner "hätschele er die Mittelklasse" und treibe auf diese Weise einen Keil zwischen die Schwerreichen im Land, die für alles Übel und Elend verantwortlich gemacht werden, und den Rest der Bevölkerung. Und "das in einer Zeit, in der die obersten 1 Prozent der Amerikaner 37 Prozent aller Steuern zahlen, während die Top 5 Prozent fast 60 Prozent zahlen".

Schließlich wisse doch jeder Amerikaner, dass die staatliche Ausgabe- und Verschwendungspolitik der Grund für das gigantische Budgetloch und die hohe Staatverschuldung der Nation sei. Obama will dieses Problem aber nur angehen und lösen, wenn der republikanische Gegner einer Reichensteuer zustimmt. Nach Ansicht Merrys scheint der Präsident eine solche nationale Lösung aber zu scheuen. Denn nur so könne er den Keil zwischen Arm und Reich noch tiefer treiben.

Populismus à la Chavez

All das ist nach Meinung des "National Interest" Herausgebers neu und breche mit der bisherigen Politik der Liberalen. Schlimmer noch für ihn: Sie trage mehr die "Züge eines lateinamerikanischen Populismus", als dass sie der politischen Tradition der USA entspräche. In einem schneidigen Kommentar für die "Washington Post" befand der neokonservative Charles Krauthammer diesen Populismus für so "plump", dass er mehr dem verstorbenen "Venezulaner Hugo Chavez ähnle als dem eines Franklin D. Roosevelts."

Anders als Obama konnte sich Chavez jedoch mit dem Ölreichtum des Landes politisch schmücken. Damit konnte er sich die Unterstützung der Bevölkerung erkaufen, er konnte soziale Programme auflegen und durch Almosen sich ihrer Loyalität vergewissern. Obama hingegen habe nur die Reichen, aus denen er gewiss genug Kapital herauspressen wird, um den Großteil seiner sozialen Agenda zu realisieren. Die Frage sei aber, wie viel Schaden er damit bis zur nächsten Wahl anrichten werde.

Mit ideologischer Brille

Das ist gewiss starker Tobak, den der Herausgeber des renommierten Blattes da verbreitet. Der Vorwurf des "Populismus" hat bekanntlich eine Zweitseitenform. Einerseits gibt er berechtigten Anliegen, die im Volk kursieren, Form und Ausdruck; andererseits fungiert er als Kampfbegriff für nahezu alles, was einem nicht passt. Er wird benutzt, um Missliebiges madig zu machen. In diesem Fall dürfte es sich wohl um die letzte Variante handeln. Dass das vom Chef des "National Interest" stammt, erstaunt schon etwas.

Gewiss wurde die Zeitschrift Mitte der 1980 von Irving Kristol, einem führenden und bekennenden Neokonservativen, gegründet. Dort hatte einst Francis Fukuyama seinen legendären Essay zum "Ende der Geschichte" publiziert. Als der Anglojapaner Mitte der Nullerjahre das Board der Zeitschrift verließ, um das Konkurrenzblatt "The American Interest" aus der Taufe zu heben, wurde dessen Weggang als "Schisma" zwischen Realisten und Neokonservativen gewertet.

Seitdem gab und gibt es etliche Artikel, die sich sehr kritisch mit der Außenpolitik der Bush-Administration auseinandergesetzt haben, mit der Politik der Demokratieverbreitung genauso wie mit einem möglichen Militärschlag gegen den Iran. Mittlerweile ist die Zeitschrift, die im zweimonatigen Rhythmus erscheint, aber offen für alle, Republikaner wie für Liberale. Im Beratergremium finden sich Liberale und Realisten wie etwa John Mearsheimer und Kenneth M. Pollack, Andrew J. Bacevich, Bruce Hoffman oder Jacob Heilbrunn.

Machtbewusster Pragmatiker

Selbstverständlich ist Etliches von dem, was Robert W. Merry Obama vorwirft, durch die libertäre Brille beobachtet. Und man kann auch einiges an ihm aussetzen und für schlecht gemacht befinden. Aber dass er in ideologischen Kategorien denkt und handelt oder gar ein "Volksverführer" ist, kann man ihm wahrlich nicht vorwerfen.

Hätte man Obamas außenpolitische Bewerbung für das Präsidentenamt richtig studiert, wo es ihm um eine "Erneuerung der US-amerikanischen Führerschaft" ging, dann hätte man bereits dort erkannt, dass er alles andere als ein "moderater" Präsident sein wird. Anders hätte er gar keine Chance gehabt, gewählt zu werden.

Gleichwohl gemahnt der Text Merrys uns daran, dass Obama wie Frau Merkel ein machtbewusster und sehr pragmatisch denkender und handelnder Politiker ist und erst mal die möglichen Folgen einer unbedachten Handlung bedenkt und lieber eine Risikofolgenabschätzung vornimmt, als blind in eine politische Sackgasse zu laufen.

Angesichts der großen Finanzkrisen, die gerade die Welt erschüttern, oder der gewaltsamen Konflikte in Syrien und anderswo ist eine solche eher abwartende Haltung gewiss nicht die schlechteste Alternative. Mit politischer Theologie oder anderen Grundsätzlichkeiten wäre ihnen wohl auch kaum beizukommen. Mal abgesehen davon, dass die Welt damit auch noch schlechter bedient wäre.