Mursis Sieg

Der Verfassungsentwurf in Ägypten wurde mehrheitlich angenommen; die Opposition erhebt Vorwürfe der Wahlmanipulation

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Der Verfassungsentwurf ist auch in der zweiten Runde des Referendums angenommen worden. Laut vorläufigem, inoffiziellen Ergebnis mit 64 Prozent "Ja"-Stimmen. Da der Widerstand gegen die neue Verfassung vor allem aus urbanen Zentren kam, ist die beinahe Zwei-Drittel-Mehrheit keine große Überraschung. Die schwache Wahlbeteiligung, 32 Prozent, relativiert den Zuspruch allerdings. Die Zustimmung zu Mursi Projekt, der Staatspräsident hatte die Angeordneten der verfassungsgebenden Versammlung dazu gedrängt, die einzelnen Artikel in einer Nacht zu verabschieden, fällt insgesamt weniger deutlich aus als die Zustimmung bei der Wahl, die ihn zum Präsidenten machte, wie ihm dies ägyptische Zeitungen vorhalten. Mursi selbst wird das „Ja“ zur Verfassung als Konsolidierung seiner Macht auffassen.

Ob dagegen der Protest der Opposition, allen voran der Koalition für das nationale Heil („National Salvation Front“) etwas ändern wird? In einem offiziellen Statement erhebt sie Vorwürfe des Wahlbetrugs. Sie wollen das Ergebnis anfechten. Auch der deutsche Außenminister Westerwelle stellte sich auf Seiten derjenigen, der das Abstimmungsergebnis mit großer Skepsis entgegennahmen und forderte eine Untersuchung. Den Vorwürfen solle "zügig, transparent und konsequent nachgegangen" werden, so Westerwelle:

"Anerkennung wird eine neue Verfassung nur finden können, wenn das Verfahren zu ihrer Annahme über alle Zweifel erhaben ist."

In Ägypten rufen mittlerweile zivile Organisationen zu Protesten gegen einzelne Artikel auf; so etwa die Kampagne „Nein zu Militärgerichten“, die in der neuen Verfassung entgegen der Beschwichtigungsversuche Mursis eine Handhabe sieht, Zivilisten vor Militärgerichte zu stellen. Diese Methode, die sich als staatsmächtiges Mittel gegen Proteste und Kritik an der Regierung und als Einschüchterung "bewährt" hat, wurde in der Zeit nach Absetzung des früheren Präsidenten Mubarak bereits in größerem Stil praktiziert ( 12.000 Zivilisten vor Armeetribunalen angeklagt).

Mehrere Artikel der Verfassung sind umstritten. Vielen Menschenrechstvertretern wie Oppositionellen ist die Absicherung der Grundrechte nicht stark genug, sie werfen der neuen Verfassung vor, dass vieles zu vage bleibe und dem Staat viel Spielräume für Missbrauch eröffne. Andere halten dem entgegen, dass der Abstimmungsprozess in der verfassungsgebenden Versammlung undemokratischer war als der Entwurf selbst und geben zu bedenken, dass der Institution al-Azhar eine Kontrollfunktion zukomme, die gegen allzu rigide Auslegungen absichern könnte. Al Azhar vertrete eher einen moderaten Islam, heißt es auf dieser Seite. Diese Hoffnung auf "die Ashar" teilen aber nicht alle.

Beunruhigend sind Nachrichten, die von Angriffen eines Schlägertrupps gegen den Staatsanwalt berichten, der von Musri durch einen neuen Mann ersetzt wurde. Darüberhinaus kündigt die Zeitung Egypt Independent an, dass Mursi mehrere Verfassungsrichter in den nächsten Tagen entlassen will. Dies ist vielleicht nur eins der vielen Gerücht und hat vielleicht andere Motive, als man sie Mursi auf den ersten Blick unterstellen will. Es ist aber ein weiterer Hinweis darauf, dass der Kampf zwischen Mursi und dem Justizapparat noch nicht beendet ist.

Das Referendum zeigt zunächst, dass Mursi und die Muslimbrüder eine Mehrheit dafür haben, eine Politik zu führen, die vor allem mit Moral und islamischen Werten agiert. Das ist nach langen Jahren der von Korruption und Machtmissbrauch gekennzeichneten Mubarak-Herrschaft verständlich. Die Haupreferenz auf Tugend und Moral trägt aber angesichts der wirtschaftlichen Situation des Landes nicht sehr weit. Welche wirtschaftlichen Ziele die Regierung Mursi hat, wird sich erst noch herausstellen. Die Opposition wird genau hinschauen, wie moralisch die Regierung Mursi verfährt, was sie mit ihrer Macht anstellen wird. Was lassen sie an gegenläufigen Standpunkten gelten und wie verfahren sie gegen ihre Kontrahenten? Es gibt Signale, die darauf verweisen, dass zwar die Liberalen und Säkularen mehrere Standpunkte und damit auch die der Muslimbrüder gelten lassen, die Vertreter der Muslimbrüder aber vor allem ihre Ansichten gelten lassen:

"It’s a polarisation between Islamist forces who are after a highly defined identity-based project to see a more Islamised Egypt,” says Lina Attalah, editor of the English-language Egypt Independent. “The other camp is a revolutionary camp that wants to see a democratic Egypt that allows multiple identities to exist."