Warum Geheimdienste feindliche Untergrundorganisationen aufbauen

Die Verstrickung des Staates mit dem NSU folgt einem bekannten Schema

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Beim „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) wird der Einfluss der Geheimdienste immer deutlicher. Nunmehr wurde auch der „Architekt des NSU“ als V-Mann des Inlandsgeheimdienstes Verfassungsschutz enttarnt. Die schleppenden Ermittlungen und die Vielzahl an unglaublichen „Pannen“ wie versehentlich geschredderten Akten drängen die Schlussfolgerung auf, dass ein Staatsskandal noch bitteren Ausmaßes vertuscht werden soll. Warum, fragt sich der Laie, sollte ein Rechtsstaat ein Interesse daran haben, Untergrundorganisationen zu unterstützen?

Die Antwort liefert ein Blick in die Geheimdienstgeschichte. Das Eindringen in konspirative Organisationen durch eigene Leute ist relativ schwierig. Der Grad des gegenseitigen Vertrauens steigt mit der Dauer der Zugehörigkeit zur Gruppe. Für strategisch denkende Geheimdienste ist es daher attraktiv, Undercover- und V-Leute in der Gründungsschicht einer solchen Vereinigung zu platzieren. Das geht am einfachsten, wenn man möglichen Gegnern zuvorkommt und solche Organisationen von Anfang an selber gründet.

Berühmt-berüchtigtes Beispiel ist die scheinbar konterrevolutionäre Geheimgesellschaft TRUST („Vertrauen“), die sich 1921 unter russischen Emigranten im Pariser Exil bildete. Die von Estland aus organisierte Gruppe war in Wirklichkeit eine Geheimoperation von unter falscher Flagge auftretenden Tschekisten, die möglichen Gegnern drei Schritte zuvorkamen und diese steuerten. Das Vertrauen in TRUST bezahlten viele mit dem Leben. Die Tschekisten hielten ihre Scharade bis 1943 durch.

Im Zweiten Weltkrieg betrieben sowohl die britischen als auch die deutschen Geheimdienste „Staatstheater“. So war es auf der Insel u.a. aufgrund der Funkpeilung gelungen, praktisch das gesamte Netz deutscher Agenten zu identifizieren und umzudrehen. In der Operation DOUBLE CROSS orchestrierte der britische Geheimdienst gefälschte Funkmeldungen, um die deutschen zu täuschen. In den von Deutschland besetzten Gebieten verfuhr jedoch der deutsche Geheimdienst nach dem gleichen Schema und inszenierte für die britischen Funker eine scheinbare Widerstandsbewegung. Um eine schlagkräftige Untergrundorganisation vorzutäuschen, verübten die Deutschen während der Operation NORDPOL vorgebliche Attentate auf eigene Schiffe und Anlagen, die jedoch keinen relevanten Schaden anrichteten. Der auf diese Weise geköderte britische Geheimdienst sandte zur Unterstützung Fallschirmagenten und Munitionsabwürfe. Im tatsächlichen niederländischen Untergrund erwies sich „Arnaud“ als fähiger Organisator. Die von ihm und seinen Freunden rekrutierten Widerstandskämpfer erwartete langfristig ein bitteres Ende, denn „Arnaud“ war in Wirklichkeit der deutsche Undercoveragent Karlheinz Christmann, der die Aktionen des britischen Geheimdienstes effizient sabotierte.

Die CIA unterstützte ab 1947 in Polen die konterrevolutionäre Untergrundorganisation WIN. In Wirklichkeit jedoch war WIN eine Undercover-Operation des polnischen Geheimdienstes, der die finanziellen Mittel aus den USA an kommunistische Organisationen in Italien durchreichte und schließlich die CIA propagandistisch bloßstellte. Auch in den folgenden Jahrzehnten erwiesen sich im Osten nahezu alle Spionageringe als von den Gastgebern gesteuert.

Im Nachkriegsdeutschland formierten sich im Westen diverse Gruppierungen, etwa der „Bund Deutscher Jugend“, die antikommunistisch und nationalistisch eingestellt waren. Bei diesen scheinbar deutschen Organisationen zogen praktisch immer alliierte Geheimdienste die Fäden, die auf diese Weise einen offiziell den Deutschen verbotenen paramilitärischen Widerstand aufbauen, gleichzeitig aber auch Altnazis kontrollieren wollten. Organisationen wie etwa die berüchtigte „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) wurden schon bald vom gegnerischen Geheimdienst unterwandert. Der britische Agent Adolf von Thadden gründete diverse Parteien am rechten Rand, darunter 1964 auch die „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD). Als ebendiese Partei vier Jahrzehnte später verboten werden sollte, lehnte dies das Bundesverfassungsgericht mit der Begründung ab, dass die Organisation auf der Führungsebene durch V-Leute unterwandert sei, was ein bisschen zu viel des Staatlichen war.

Als im Zuge der 68er-Bewegung in Westdeutschland und West-Berlin Linksextremisten in den Untergrund gingen, weckte dies die Aufmerksamkeit der Geheimdienste in West und Ost. Insbesondere mit der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) kooperierte das DDR-Ministerium für Staatssicherheit, weil die Geheimen im Osten auf diese Weise auskundschaften konnten, was lief. Auch bei westlichen Geheimdiensten kam es im Zusammenhang mit der RAF zu manchen noch immer unklaren V-Mann-Operationen. Spektakulärstes Manöver war die „Aktion FEUERZAUBER“, bei welcher westliche Geheimdienste ähnlich wie bei der „Operation NORDPOL“ zum Zwecke psychologischer Kriegsführung ein Loch in die Mauer der JVA Celle sprengten. Angeblich sollten hierdurch V-Leute Street Credibility erhalten, indem sie sich in der Szene mit der Tat brüsteten. Es stellt sich jedoch die unangenehme Frage, was von den bis heute unaufgeklärten und teilweise unlogischen Anschlägen zu halten ist, die der RAF angelastet werden.

Aus Sicht von Geheimdienstlern lag es nahe, die sich vor allem in den neuen Bundesländern formierende Neonazi-Szene frühzeitig mit V-Leuten zu unterwandern, um möglichst auf die Kommando-Ebene durchzudringen. Der Sinn derartiger Methoden zur Beobachtung der rechten Ränder wird vor allem in jüngster Zeit von Insidern bezweifelt. So wurden etwa in einem bayrischen Untersuchungsausschuss die Abgeordneten von Politikwissenschaftlern besser über die bayrische Neonazi-Szene ins Bild gesetzt als vom Bayrischen Verfassungsschutz. Die Vorstellung, deutsche Behörden hätten den mörderischen NSU mit aufgebaut, ist unerträglich – aber leider nicht undenkbar.