ACTA-Unterzeichnung führt zu Regierungskrise in Polen

US-Botschaft verlangte angeblich Rechenschaft über Abstimmungsverhalten in einem Sejm-Ausschuss

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Am 26. Januar unterzeichnete ein Vertreter der polnischen Regierung in Tokio das weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgehandelte ACTA-Abkommen, das Kritiker für gefährlicher halten als die unlängst auf Eis gelegten amerikanischen Internet-Zensur-Gesetze SOPA und PIPA. Vorher hatte PolishAnonymous aus Protest teilweise tagelang Regierungs- und Behörden-Websites lahmgelegt. Dies konnte die Unterschrift jedoch ebenso wenig verhindern wie Demonstrationen und Drohungen mit der Veröffentlichung von Informationen aus Politikerrechnern.

Für eine Ratifizierung muss nun noch der Sejm, das polnische Parlament, zustimmen. Dort hatte der Ausschuss für Innovation und Neue Technologien nach Informationen des Bloggers Alexander Double einen Tag vor der Unterzeichnung für eine Überraschung gesorgt, als es aufgrund der Abwesenheit von drei Abgeordneten der Regierungsparteien zu einer Mehrheit für ein Papier kam, dass dazu riet, ACTA nicht zu unterzeichnen. Weil das Quorum erreicht und die zeitlichen Vorgaben eingehalten wurde, war der Beschluss gültig. Der Ministerpräsident setzte sich jedoch über die Entscheidung hinweg und ließ ACTA trotzdem unterzeichnen. Nun erregt eine Meldung des Senders TVN24 Aufsehen, der zufolge ein Vertreter der US-Botschaft im Sejm anrief und eine Erklärung über das Abstimmungsergebnis verlangte, was von Kritikern als Indiz für eine mögliche Auslandshörigkeit in dieser Frage gewertet wird.

Der sichtbarste Widerstand gegen ACTA kam im Parlament von der Partei Ruch Palikota, die bei der letzten Wahl mit einem auf die Freiheit des Internets und die Beschränkung der Macht der Kirche ausgerichteten Wahlkampf überraschend drittstärkste Kraft wurde. Ihre Abgeordneten setzten am Donnerstag Guy-Fawkes-Masken auf, wie sie die Anonymous-Bewegung trägt, und produzierten damit das Bild des Tages. Obwohl die Masken erkennbar selbst gebastelt (beziehungsweise "kopiert") waren und der Medienkonzern Warner ein "geistiges Eigentumsrecht" an dem Design beansprucht, ist unwahrscheinlich, dass die Abgeordneten deshalb juristische Angriffe fürchten müssen: Auch Warner hat ein Interesse an ACTA und dürfte dem Abkommen deshalb nicht noch mehr Aufmerksamkeit verschaffen wollen.

Gegenwind erhält Tusk für sein Verhalten aber auch von Mitgliedern der Koalitionsparteien: Der Vorsitzende des (nicht mit dem Ausschuss für Innovation und Neue Technologien identischen) Ausschusses für Informatisierung trat am Freitag wegen ACTA zurück und Michał Boni, der Minister für Verwaltung und Digitalisierung, erklärte dem Ministerpräsidenten in dieser Angelegenheit seine grundsätzliche Bereitschaft zur Demission. Auch Bogdan Zdrojewski, der Minister für Kultur und Nationalerbe gab mittlerweile öffentlich bekannt, dass er Tusk von der Unterzeichnung abgeraten haben, worauf hin ihm Boni in einem Radiointerview ein Ausscheiden aus dem Kabinett nahelegte.