Schafft das Sitzenbleiben ab!

Die Deutschen geben immer noch zu wenig für Bildung aus. Gleichzeitig kostet das Sitzenbleiben zu viel Geld.

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Pünktlich zum Start des neuen Schuljahres hat die OECD letzte Woche einer ihrer berühmt-berüchtigten Bildungsstudien (Bildung auf einen Blick) veröffentlicht. Darin rechneten die Bildungsexperten den Deutschen mal wieder vor, zu wenig in Bildung zu investieren. Mit 4,8 % des BIP lägen sie deutlich unter dem Durchschnitt aller OECD-Länder. Nur Spanien, die Slowakei und die Türkei gäben noch weniger aus als die Bundesrepublik. Kritisiert wurde auch, dass der Anteil der Studenten viel zu gering sei. Nehmen im Schnitt über die Hälfte eines Jahrgangs in den Vergleichsländern ein Studium auf, täten das in Deutschland nur knapp über ein Drittel.

Auch wenn die Vergleichsdaten zuweilen hinken, weil Bildungssysteme aufgrund nationaler Eigenheiten nur bedingt untereinander vergleichbar sind, fragt sich der Beobachter ganz unwillkürlich, warum die Bundesrepublik Exportweltmeister ist, in Wissenschaft und Forschung Spitzenpositionen einnimmt und auch sonst im Vergleich überdurchschnittlich abschneidet, wenn das Bildungssystem notorisch unterversorgt, marode und schlecht ist.

Zu teuer und wirkungslos

Gut eine Woche davor erfuhr die Öffentlichkeit von einer anderen Langzeitstudie. Auch sie attackierte heftig das hiesige Bildungssystem. Durchgeführt hatte sie Klaus Klemm, Bildungsforscher im Ruhestand, im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Ihr zufolge kostet allein „das Sitzenbleiben“ dem deutschen Staat pro Jahr knapp eine Milliarde Euro. Die Summe errechnet sich aus den zu¬sätzlich benötigten Personalausgaben für Schulen, Lehrer und Verwaltung, dem Auf¬wand der Sachaufwandsträger wie Städten und Kommunen sowie den Investitionsausgaben der jeweiligen Bundesländer.

Hinzu komme, dass das Wiederholen einer Klasse „pädagogisch sinn- und wirkungslos“ sei. Auch nach einer „Ehrenrunde“ zeigten die Wiederholungsschüler keine Verbesserungen ihrer Leistungen. Für die im Klassenverbund verbliebenen Schüler ergaben sich, wenn Schwächere, Minderbegabte oder Lernunwillige dort verblieben, ebenfalls keine Fortschritte. Die Homogenisierung der Lerngruppen, die dadurch erzielt werden solle, wirke sich jedenfalls entgegen der Ansichten vieler Praktiker nicht positiv aus. Besser wäre es, diese Milliarde gezielt in die individuelle Förderung von Schülern umzulenken. Schulen und Lehrer, die sich dabei besonders verdient machen, sollten dafür belohnt werden. Die einen mit mehr Lehrerstunden, die anderen mit einer „zusätzlichen Fortbildung nach Wunsch“.

Sabbatjahr schadet nicht immer

Nun ist das mit dem „zu teuer“ und dem „zu unwirksam“ so eine Sache. Zum einen scheinen die Kosten des Wiederholens viel zu hoch veranlagt, und das Problem maßlos überschätzt zu sein. Im Schnitt muss nämlich nur jeder vierzigste Schüler eine Klasse wiederholen. Kostspielig sind bekanntlich auch andere Maßnahmen, für die der Staat Vorsorge trifft oder die er zu verantworten hat. Mit den gleichen Argumenten könnte man künftig auch Haftstrafen oder die Verweildauer der Delinquenten in Gefängnissen verkürzen. Allein daran erkennt man die Unsinnigkeit einer solchen Kosten-Nutzen Rechnung.

Ähnliches könnte man auch über die Ineffizienz des Wiederholens sagen. Gewiss ist das „Sitzenbleiben“ für den Einzelnen bisweilen ein Trauma. Er muss seine Jahrgangsklasse und Lerngruppe verlassen und wird in eine Klasse gesetzt, in der die Schüler/innen im Schnitt ein Jahr jünger sind als er. Gleichzeitig bekommt er attestiert, dass er, aus welchen Gründen auch immer, unfähig ist, den Lernstoff des folgenden Jahres zu bewältigen. Andererseits gibt es aber nicht wenige, die ein solches „Sabbatjahr“ durchaus genießen. Endlich können sie ein Jahr lang ohne Bauchschmerzen oder mulmigem Gefühl im Magen am Morgen sorglos in die Schule gehen.

Qualität statt Quantität

Stellen „Kritische Pädagogen“ nun fest, dass Sitzenbleiben „pädagogisch unsinnig“ und „schädlich“ sei und daher auf den Prüfstand gehöre (Forum Kritische Pädagogik), dann verwundert zuallererst die Pauschalität, in der sie dieses Urteil gefällt wird. Gerade beim Sitzenbleiben muss immer der Einzelfall geprüft werden. Ist der Schüler einfach faul, lernunwillig und nicht motiviert? Oder handelt es sich womöglich um eine familiäre Sondersituation wie Scheidung, Arbeitslosigkeit oder Krankheit? Dann ist es eventuell auch sinnvoll, eine Leistungspause einzulegen, um Defizite oder Lücken aufzuholen und auszugleichen. Oder ist der Schüler mit den Leistungsanforderungen der Schule schlichtweg überfordert? Dann bringt allerdings auch eine Zusatzrunde wenig, da sich im nächsten oder spätestens im darauf folgenden Jahr das Problem der Überforderung erneut stellt.

Ob Schüler sitzen bleiben oder nicht, ist im Prinzip eine Frage der Begabung, aber auch der Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft. Der Talentierte und kognitiv Bewanderte wird auch, nachdem er, aus welchen Gründen auch immer, ein Sabbatjahr einlegen musste, den Lernstoff später auch mühelos meistern. Dem Minderbegabten, Schwachen oder gar Lernunwilligen hingegen wird auch eine solche Auszeit wenig nützen. Zwar hat er einen kurzeitigen Aufschub bekommen, aber es wurde keine Lösung des Problems gefunden.

Das Problem des Sitzenbleibens verschärfte sich selbstverständlich, wenn zu viele „ungeeignete Schüler“ auf höhere Bildungsanstalten wechseln. Schulen, Ministerien und Bundesländer suchen dem entgegenzuwirken, indem sie die Leistungsanforderungen von Jahr zu Jahr schrittweise herunterfahren. Schließlich will man die Forderungen der OECD, siehe oben, erfüllen und eine Anhebung der Studentenzahlen erreichen. Das Gegenargument der Forscher, dass Bundesländer, bei denen die Gymnasialquote höher ist als in anderen, nicht auch eine entsprechend höhere Wiederholerquote haben als andere, beweist nicht die Richtigkeit ihrer Behauptung, sondern nur die unterschiedliche Handhabung der Prüfungs- und Leistungsanforderungen in den Ländern. In dem einen Bundesland, das hat PISA schön gezeigt, ist es eben leichter und einfacher das Abitur zu schaffen als in einem anderen.

Naiver Rousseauismus

Der Glaube, dass durch „individuelle Förderung“ das Problem des „Sitzenbleibens“ zu lösen ist, ist ein frommer Wunsch und eine schöne Illusion. Er entstammt eines naiven pädagogischen „Rousseauismus“, der die „wahre Natur“ verklärt und auf „das Gute“ im Menschen vertraut. Von ihm weiß man bis heute nicht genau, ob er im letzten Jahrhundert mit seiner Lehre nicht einen größeren Kulturbruch ausgelöst hat als der Leninismus mit seinem Ruf nach Veränderung der Welt und des Menschen.

Die Anforderungen, die heute im Studium in den Naturwissenschaften, aber auch in den anderen Fächern verlangt werden, steigen ständig. Sie sind mit einem Lernen nach Lust und Laune kaum zu bewältigen. Nur in den allerwenigsten Fällen lernen Schüler wie Erwachsene intrinsisch und freiwillig. Um Vokabeln und Formeln zu lernen und Kurven und Diagramme zu deuten, um Rechenoperationen durchzuführen oder schwierige Texte zu erschließen, bedarf es nun mal Ausdauer und Sitzfleisch, aber auch Druck und Sanktionen seitens von Eltern, Lehrer und Schule. Wer wüsste davon nicht sein Leid zu singen. Auch so genannte „Wunderkinder“ und andere Virtuosen des Sports und der Kunst wissen davon ein Lied zu singen.

Im Übrigen kann das Bildungssystem nur funktionieren, wenn es auch einen gesellschaftlich akzeptierten Plan gibt, was ein Dreizehnjähriger lernen und was ein Fünfzehnjähriger können soll (Niklas Luhmann beobachtet das Erziehungssystem). Wird „individueller Lernfortschritt“, womit in aller Regel das Lust- und Launeprinzip geadelt wird, als Losung ausgegeben und zum Maßstab des Erfolges, verläuft sich dieser Vergleich im Beliebigen. Bildungsabschlüsse wie das Abitur verlieren, wie heute vielfach zu beobachten ist, ihren Wert ( Bildung als Selbstbetrug).

Was nicht sein darf, kann nicht sein

Im Prinzip verwickelt sich die Studie mit ihren Forderungen nach „Aufhebung des Sitzenbleibens“ in einen performativen Selbstwiderspruch. Einerseits tut die Studie so, als gehe es ihr um den Einzelnen. Sie will ihm helfen und ihn fördern. Andererseits tut sie aber genau das, was sie dem Bildungssystem vorwirft, nämlich, alle Schüler über einen Kamm zu scheren.

Die Forderung nach Individualisierung kommt in der empirischen Forschung nicht mehr vor. Stattdessen dominieren Vergleich, Kosten-Nutzen-Rechnung und Pauschalurteil. Darum ist der Verdacht auch nicht unbegründet, dass die „Kostenfrage“ als Vehikel dient, um ideologisches Wunschdenken in die Öffentlichkeit zu transportieren. Man verschanzt sich hinter „wissenschaftliche Objektivität“, um damit handfeste Politik machen zu können.