Innenminister wollen polizeiliche Ermittlungen schrittweise automatisieren

Ein neues IT-System zur "länderübergreifenden operativen und strategischen Kriminalitätsanalyse" ist jetzt öffentlich ausgeschrieben. Die Technik ist aber aus mehreren Gründen fragwürdig

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vielfach wurden die Ermittlungen von Bundes- und Landesbehörden zu den Morden des NSU kritisiert. Noch immer wird daran festgehalten, es habe sich lediglich um ein kleines Grüppchen von Nazis gehandelt. Jedoch werden immer mehr V-Personen bekannt, die über Inlandsgeheimdienste beträchtliche Summen zur Finanzierung des NSU beisteuerten. Bis vor zwei Jahren gingen Beamte sogar davon aus, es habe sich wohl um Taten im Bereich organisierter Kriminalität gehandelt. Die Angehörigen der Opfer haben diese Stigmatisierung mittlerweile in vielen Medien öffentlich gemacht.

Anstatt nun rassistische Grundannahmen bei Polizei und Verfassungsschutz über Bord zu werfen, antwortet das Bundesinnenministerium mit einem weiteren IT-System zur "länderübergreifenden operativen und strategischen Kriminalitätsanalyse". Zwar ist der "Polizeiliche Informations- und Analyseverbund" (PIAV) schon seit Jahren in der Mache. Die endgültige Entscheidung zur Errichtung von PIAV fiel aber erst 2012 auf der Herbstsitzung der Innenministerkonferenz.

Offensichtlich haben Polizei und Dienste selbst den Überblick über ihre Datensammlungen verloren: In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion beklagt die Bundesregierung eine "aktuell bestehende heterogene und zergliederte Dateilandschaft". PIAV ist ein System zur Auswertung und Recherche in diesen zerklüfteten Datenbanken. Als Ziel gilt ein "Frühzeitiges Erkennen von Tat-Tat- und Tat-Täter-Zusammenhängen".

Werkzeug für Ermittlungsverfahren im In- und Ausland

Die Software soll Beziehungen zwischen Personen, Objekten oder Tathergängen finden und visualisieren. Bestimmte Gebiete, in denen sich zuvor definierte Delikte besonders häufig ereignen, werden als "geografische Kriminalitätsbrennpunkte" angezeigt. PIAV hilft bei der automatisierten Erstellung von Kriminalitätslageberichten, die dann als "aussagekräftige Informationsgrundlage" sowohl für die polizeiliche als auch politische "Führungs- und Entscheidungsebene" dienen.

Zukünftig könnten die Behörden auf diese Weise auch grenzüberschreitend aktive Straftäter finden. So jedenfalls sieht es eine NOTICE:290097-2013:TEXT:DE:HTML: internationale Ausschreibung vor, die vor sechs Wochen auf einem EU-Portal veröffentlicht wurde. Dort ist die Rede von einer "Koordinierung und Unterstützung von Ermittlungsverfahren im In- und Ausland".

Alle Bundes- und Länderpolizeibehörden sowie der Zoll sollen an PIAV angeschlossen werden. Voraussetzung ist, dass die Behörden bereits über ein IT-System verfügen, das entsprechende Schnittstellen bietet bzw. auf Markierungen beruht, die mit PIAV kompatibel sind. Unter dem Namen "PIAV-Operativ Zentral" wird ein Backbone beim Bundeskriminalam (BKA) in Wiesbaden betrieben.

Insgesamt werden von der Bundesregierung Kosten von rund 62 Millionen Euro veranschlagt, davon 24 Millionen für die "Zentralkomponente" beim BKA und rund 38 Millionen für die "Anpassung der Teilnehmersysteme" in der Peripherie. Die Summen dürften sich aber beträchtlich erhöhen. Ursprünglich sollte PIAV bereits dieses Jahr in Betrieb gehen. Mit einer Auftragsvergabe, mithin dem Beginn entsprechender Programmierung, kann aber nicht vor Anfang nächsten Jahres gerechnet werden.

Zunächst soll PIAV lediglich im Phänomenbereich "Waffen- und Sprengstoffkriminalität" an den Start gehen. Ab 2015 sollen dann weitere Deliktbereiche integriert werden. Der schrittweise Aufwuchs war von den Innenministern der Länder gefordert worden, da eine schnelle Umsetzung des Gesamtprojekts als finanziell zu risikoreich betrachtet wurde.

Allerdings läuft die Beschaffung – wie bei früheren IT-Projekten des Bundesinnenministeriums - nicht wirklich rund ( Gemauschel bei Polizeiprojekten?). Zunächst war eine "freihändige Vergabe" des Auftrags angekündigt worden, inzwischen ist der Auftrag aber öffentlich ausgeschrieben. Jedoch wurde die geforderte Leistung mehrmals geändert.

Auch die Kriterien für die Auswahl der Bewerber machen stutzig. In einem Punktesystem werden Betriebe bevorzugt, die über mehr als 250 Mitarbeiter verfügen. Während es ursprünglich hieß, die Hälfte sollten "Softwareentwickler" sein, ist in der NOTICE:320388-2013:TEXT:DE:HTML&src=0: geänderten Fassung die Rede von "Mitarbeiter[n], die im Bereich der Softwarentwicklung tätig sind". Für PIAV werden demnach auch "Softwarearchitekten, Tester und Mitarbeiter mit weiteren Querschnittsaufgaben" benötigt.

Software für Aussagen zu "extremistischen Ausprägungen"

Wofür es den PIAV eigentlich braucht, ist aber unklar. Mit dem sogenannten "Kriminalpolizeilichen Meldedienst" (KPMD) wird bereits jetzt eine bundesweit einheitliche Erhebung von Straftaten vorgenommen. Das System wird insbesondere im "Phänomenbereich politisch motivierter Kriminalität" genutzt. Laut Aussage der Bundesregierung schafft der KPMD eine "verlässliche Datenbasis für polizeiliche Auswertung, statistische Aussagen, Führungsentscheidungen, kriminalpolitische Entscheidungen sowie für kriminologische Forschung zum Zwecke der Prävention und Repression". Dadurch könnten sogar Aussagen zu "extremistischen Ausprägungen" getroffen werden.

Ähnlich dem Meldedienst und PIAV soll auch die neue "Rechtsextremismusdatei" Zusammenhänge zwischen Personen, Orten und Sachen herstellen. Die Aggregierung und die Verknüpfung der Daten sowie die statistische Auswertung ist hierfür in einem eigenen Gesetz festgelegt. Geplant ist wohl, wie bei PIAV Analysesoftware zum Durchforsten des polizeilichen und geheimdienstlichen "Big Data" einzusetzen. Ursprünglich sollte dies ab dem 4. Quartal 2013 beginnen. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom April diesen Jahres musste das Bundesinnenministerium das Ansinnen aber zunächst zurückstellen.