Liebe ALG II-Empfänger, wir lernen doch noch...

Außer Kontrolle

Die Bundesregierung gerät beim Thema ALG II zunehmend in Erklärungsnot. Eine Rolle spielen Pelzmäntel, Lernprozesse und Haarshampoo.

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Eigentlich ging es dem Kläger Thomas K. nur darum, dass die ALG II-Regelsätze "ordnungsgemäß, rechtskonform, transparent und nachvollziehbar bemessen werden". Die Klage könnte aber durchaus dazu führen, dass die gesamte Regelsatzpolitik geändert werden muss, z.B. hin zu einer individuellen Leistung, was durch die Regelsätze ja abgeschafft wurde (bis auf wenige Ausnahmen).

Es ist erfreulich, dass sich die Absurdität der Regelsatzbemessung nun auch abseits der Erwerbslosenforen einmal im Mittelpunkt der Öffentlichkeit wiederfindet. Denn egal ob jemand der Meinung ist, 357 Euro seien genug, oder nicht: dass es nachvollziehbar sein muss, wie sich solche Regelsätze ergeben, müsste doch eine Selbstverständlichkeit sein. Doch wurden die Regelsätze, die das Existenzminimum definieren sollen (was jedoch nicht davon abhält, die Regelsätze zu kürzen, wenn dies laut SGB II möglich ist), unter Ausschluss der Öffentlichkeit definiert und die konkrete Berechnung blieb bei der rot-grünen Regierung, die ALG II verabschiedete, unter Verschluss.

Die Fehler, die diesbezüglich auch von Rechtsprofessoren nachgewiesen wurden hatten keinerlei Auswirkung auf die ALG II-Politik, wenngleich sie auch zu einem bitteren Lachen bei vielen führten. So beruht der Regelsatz nicht mehr auf Basis des "bekannten Warenkorbes", sondern auf den Erkenntnissen einer "empirischen Erfassung des Konsumverhaltens des unteren Fünftels der Bevölkerung, das selbst nicht auf Sozialhilfe angewiesenen ist". Eine solche Berechnung führte dann einerseits dazu, dass bei den Aufwendungen für Bekleidung noch herumgerechnet wurde, da die Befragten auch Geld für Maßkleidung und Pelzmäntel ausgegeben hätten, wovon man bei Sozialleistungsempfängern nicht ausginge. Als Ergebnis: von dem ermittelten Wert wurden ca 89% als Regelleistung anerkannt.

Die Frage, die der BVerfG-Präsident Papier stellte, nämlich ob wirklich davon auszugehen sei, dass sich ein gewisser Teil des unteren Fünftels der Bevölkerung, um Maßkleidung und Pelzmäntel bemühe, blieb allerdings ebenso unbeantwortet wie die Frage, warum die Aufwendungen für Nachhilfe und Hausaufgabenbetreuung unberücksichtigt blieben.

Die Bundesregierung gab im Laufe der Anhörung zum Thema denn auch zu, dass im Wesentlichen die Regelsatzfestsetzung nicht wirklich nachvollziehbar ist und schmückte dies in hübschen Worten aus. Von einer "normativen Problemannäherung", von "der eigenen Wertung auf Grund des Fehlens von Daten", von "die Daten verbessernden Sonderauswertungen" (die aber dem BVerfG nicht vorlagen) war da die Rede. Diese Abschätzung führt dann zu der Idee, dass ein Haarshampoo drei Monate lang ausreichen würde.

Aber insbesondere die ALG II-Empfänger, die die Berichterstattung über die Anhörung lesen, können sich doch freuen und Konfetti werfen, kleine Dankeskarten an die Verantwortlichen schicken, wenn sie lesen dürfen, dass "aus heutiger Sicht manches nicht mehr überzeugend ist" und "bestimmte Anhaltspunkte wegen mangelnder Daten eine seinerzeit verlässliche Basis für den Regelsatz" gebildet hätten. Denn: Zunächst war ja kein Wissen da, aber jetzt hat ein "Nachdenken begonnen" heißt es. Diejenigen, bei denen die Kontrolleure durch die Unterwäsche wühlen oder Kondome suchen, die sich dank der großzügigen Einschätzung, dass sie nur 89% der ermittelten Werte für Bekleidung bräuchten weil sie ja keine Maßkleidung und Pelzmäntel kaufen oder im Bereich Sport das Geld nicht für Sportflugzeuge ausgeben würden... sie werden sich freuen, dass die Bundesregierung mehr oder minder einfach mal geschätzt hat, wie ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung ein Existenzminimum erhält, welches den Namen auch verdient. Ein Nachdenken bevor man einen hohen Anteil der Bevölkerung Regelungen aussetzt, die solch gravierende Auswirkungen auf das Gesamtleben dieses Bevölkerungsteiles hat, wäre doch wohl eher zu erwarten gewesen, genau wie eine transparente Berechnung des Regelsatzes.

Das, was sich bei der Anhörung von der Bundesregierung hat hören lassen, ist schlichtweg ein Armutszeugnis. Nur, dass die Verantwortlichen beim Thema "Armut" allem Anschein nach nicht die geringste Ahnung haben. Vielleicht sind die Pelzmäntel noch zu flauschig um die soziale Kälte draußen zu spüren.