Von Samba zu Calvin

Die Wendung des brasilianischen Teams von der Spielkunst alter Tage zu deutscher Maß- und Wertarbeit ist möglicherweise auch Ausdruck einer religiösen Umorientierung im Land

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Auch Giovane Elber, Ex-Paradestürmer des FC Bayern, hat den "strategischen Minimalismus", den der brasilianische Nationaltrainer Carlos Dunga seinem Team verordnet hat, kritisiert. Auf das mühsame 2:1 gegen Nordkorea angesprochen, sagte er der Münchner Abendzeitung: "Noch mal so eine Vorstellung wird man ihm kaum verzeihen." Spielerisch sei das eine Riesenenttäuschung gewesen.

Zweckorientiert

Seit Carlos Dunga, Ex-Profi des VFB Stuttgart, populäre Spieler wie Adriano und Ronaldinho aus dem Kader verbannt, dem Team einen nüchternen, aber zielstrebigen Stil mit gutorganisierter Defensive verpasst und von offensiver Spielkunst auf Ordnung, Disziplin und Ballkontrolle umgestellt hat, steht er in seiner Heimat mächtig unter Druck.

Das joga bonito, das "schöne Spiel", werde erstickt und dem bloßen Zweck und Ergebnis untergeordnet, jammert die Bloggerszene, die in Brasilien eine Meinungsgroßmacht darstellt, über ihr Team.

"They're like a German car, which is fine if you're looking for a German car but not if you're searching for football worthy of the praise that's lavished on Brazil." ( Anyone But Brazil).

Mit seinem Systemfußball raube Dunga dem Team die Seele, die Schönheit, das Spektakuläre, heißt es darum auch bei "Globo", dem mächtigsten Mediengiganten im Land.

Schleudersitz

Wer sich ihn zum Feind macht, der muss in Brasilien Unglaubliches aushalten können. Denn "Globo" befindet mit seinem Unternehmen, das sich aus mehreren TV-Anstalten, Tageszeitungen und Internet-Portalen zusammensetzt, längst darüber, was Brasilianer zu denken und wie sie zu empfinden haben.

Nationaltrainer in Brasilien zu sein, gleicht daher einem Schleudersitz. Wer sich darauf einlässt, der muss wahrlich robust sein. Er darf sich weder von wüsten Beschimpfungen noch von gezielten Hasstiraden oder üblen Unterstellungen nicht schrecken lassen. Außerdem muss er Nerven wie Drahtseile haben, mit Scheuklappen durchs Land laufen und keine Angst um seine körperliche Unversehrtheit haben.

Als etwa Brasilien vor zwei Jahren in Peking gegen den Erzfeind Argentinien sang- und klanglos im Halbfinale des olympischen Turniers mit 0:3 unterging, erschien am anderen Tag eine Todesanzeige in "O Globo" mit dem Konterfei des Nationaltrainers.

Lebensquell

Mehr als jedes andere fiebert das ganze Land mit der "Verdeamarelha", den Grüngelben. Es liebt und verehrt nicht nur sein Team, es liegt ihm auch gänzlich zu Füßen. Von ihm will man verzaubert werden und zumindest für gewisse Stunden die Unzulänglichkeiten des Alltags vergessen können, in den Favelas ebenso wie in den Vorstädten oder auf dem Land.

Fußball ist das Lebenselixier der Brasilianer, es steht für Liebe und Leidenschaft. Im Spiel der Mannschaft spiegelt sich das eigene Lebensgefühl, das allzu häufig zu überbordender Sentimentalität und übermäßigen Romantizismus neigt. Dass das Land gerade dabei ist, zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufzusteigen und damit das 21. Jahrhundert entscheidend mitzuprägen, verkommt angesichts dieser Zuneigung und dieses Gefühls zu einer bloßen Fußnote.

Nikesierung

Daher wird die "Seleção", wie man die Mannschaft nennt, auch rund um die Uhr beobachtet. Der Medientross, der in Südafrika vor Ort ist und berichtet, ist der größte aller teilnehmenden Länder überhaupt. Alle zehn Minuten gehen Wasserstandsmeldungen über das Wohl- oder Missbefinden der Spieler und des Teams über den großen Teich in die Heimat.

Vor vier Jahren, als man im Achtelfinale ausschied, ist das dem Team mit zum Verhängnis geworden. Übergewichtig und unaustrainiert gingen die Spieler ins Turnier. Statt Siegen und Rennen hatten sie vorwiegend Partymachen im Sinn. Alles lief damals in Deutschland vor laufenden Kameras ab, die Vorbereitung, das Training, die Eskapaden der Spieler, die Streitereien mit Carlos Alberto Parreira, ihrem altväterlichen Trainer und Freund. Unter seiner Regie konnten die Spieler machen, was sie wollten. Zudem ließ man sich von Nike, größter Sponsor des Teams, zu allerhand Werbeterminen verleiten, die die Konzentration auf das Turnier empfindlich störten.

Die Bibel machts

Mit all dem Zirkus, der Nikesierung des Fußballs, hat Dunga Schluss gemacht. Konzentriert und abgeschottet von der "Medienmeute" und dem Ablenkungsbetrieb der großen Städte, bereitet man sich diesmal akribisch auf das Turnier vor. Man logiert in der Nähe von Johannesburg und trainiert öffentlich nur noch zu ausgewählten Zeiten. Sicherheitsdienste und Wachleute sorgen dafür, dass weder Fans noch Reporter unerlaubt aufs Gelände kommen.

Diese Wandlung des brasilianischen Samba- und Zauberfußballs vergangener Jahrzehnte, von 1958, 1970 oder 1982, hin zu mehr Zielstrebigkeit und effizienter deutscher Wertarbeit, ist aber nur zum Teil Ausdruck der Arbeit des "alemão", wie Dunga der Enkel deutscher Einwanderer stets in den Medien genannt wird.

Auch wenn er immer alles akribisch plant, keine Mätzchen duldet und dem Team "modernen Ergebnis- und Systemfußball" verordnet, kommt ihm dabei eine erstaunliche geschichtliche Wandlung des Landes zugute, nämlich der rasante Anstieg bibeltreuer evangelikaler Christen im Land.

Evangelikale Macht

Wie die Washington Post bereits vor einigen Jahren mit Erstaunen feststellte, hat sich die Zahl derer, die sich den "Bibeltreuen" zurechnen, in den letzten Jahren nahezu verdoppelt. Von den über 180 Millionen Brasilianern sind mittlerweile etwa 25 Millionen Evangelikale.

Damit stellt sie nicht nur eine neue kulturelle und politische Bewegung und Macht im Lande dar, die von mehreren Radio- und Fernsehstationen, von Zeitungen und auch einer politischen Partei unterstützt wird, die zuletzt 61 Sitze im Parlament erobern konnte; mit ihrer Zunahme verändern die Evangelikalen auch die religiöse Grundhaltung der brasilianischen Bevölkerung, die bislang zu über 90 Prozent katholisch war. Würde die Ausbreitung im gleichen Maße weitergehen wie in den Jahren zuvor, dann würde die katholische Mehrheit in zwanzig Jahren die Minderheit im Land darstellen.

Ordnung mit System

Diese Entwicklung, die das Land gerade durchmacht und ihm eine moderne Prägung gibt, spiegelt sich auch im Team. In der Startelf, die Dunga gegen Nordkorea aufs Feld schickte, spielten drei Evangelikale. Neben Lucio, dem Kapitän und Fels der Abwehr, der Spielmacher und Superstar Káká sowie der Abräumer vor der Abwehr, Felipe Mélo.

Mit Luisao, der bislang nur auf der Bank Platz nehmen durfte, vervollständigt sich ein Quartett, das die neue taktische Spielordnung, die Dunga seinem Team verschrieben hat, prägt und jenen evangelikalen Werten wie "Ordnung und Fortschritt", zu denen sich das Land neuerdings, und zwar auch unter seinem volksnahen linken Präsidenten Lula da Silva verpflichtet fühlt, auf dem Platz wie auch im Land zum Durchbruch verhelfen soll.

Bibel statt Sex

Damit stehen die Vier im krassen Gegensatz zu jenen Werten, die die Spieler Ronaldo und Ronaldinho, Adriano und Robinho einst verkörperten und mit denen das Team vor vier Jahren kläglich gescheitert ist: mangelnde Disziplin, ausschweifender Sex und Feiern bis zum Abwinken. Schon vor vier Jahren hatte Kaka, allerdings ohne Erfolg, Parreiras Entscheidung öffentlich missbilligt, Sex im Trainingslager zuzulassen.

Mit Bibellesungen und religiösen Übungen, mit mehr Strenge und Genügsamkeit will man es jetzt besser machen. Sie passen prima zu jenem calvinistischen Fußballstil, den Dunga predigt und seinen Team verordnet hat. Ob dies auch für das Land gilt, wird sich zeigen. Zu innerlich zerrissen ist Brasilien noch diesbezüglich. So gesehen spiegelt Dungas Team, seine Orientierung am mitteleuropäischen Zweckfußball die geistige und politische Lage Brasiliens nach seiner rasanten Modernisierung.

Sklavischer Herkunft

Weil Dunga darum wusste, auch wie heftig umstritten sein Konzept im Lande ist, erinnerte er, als er Mitte Mai sein Team für Südafrika öffentlich präsentierte, nicht ganz zufällig an Brasiliens dunkle Vergangenheit, daran, dass alle Brasilianer, gleich ob reich oder arm, ob aus dem Norden oder Süden stammend, mehr oder weniger sklavischer Herkunft sind.

Ganz offensichtlich wollte und will er mit dieser Anspielung an die hinlänglich bekannte Bush-Doktrin vom "Either you are with us or against us"-Mannschaft, Bevölkerung und Öffentlichkeit zusammenschweißen und auf die nationale Aufgabe des sechsten Titelgewinns einschwören. Die laute Kritik an seiner Arbeit zeigt, dass ihm das nur dürftig gelungen ist.

Nur eine Episode

Sollte Brasilien tatsächlich Weltmeister werden, dann ist das Schnee von gestern. Für kurze Zeit wird das Land dann in Taumel geraten, ihren "neuen Calvin" feiern und ihm zu Füßen liegen. Danach wird man sich vom "modernen Fußball" wohl wieder verabschieden. Man wird sich seiner Seele erinnern, an den nicht-enden-wollenden Traum vom joga bonito, der die reine Ballkunst, also den tänzelnden, schnörkeligen und artistischen Spielstil verklärt.

Es ist unwahrscheinlich, dass in vier Jahren, wenn die nächste WM in Brasilien stattfindet, dann Dunga auf der Trainerbank sitzen wird. Weder hält ein Mensch diesen Job, den der brasilianische Dichter Nelson Rodrigues bereits vor mehr als 50 Jahren als einen der schwierigsten überhaupt auf der Welt bezeichnet hat, nochmals ein Quartal aus; noch werden die Fans diesen Stil, auch wenn er von Erfolg gekrönt sein wird, länger akzeptieren. Dafür werden allein Blogger und "Globo" sorgen.