Das willkommene Thema Kinderpornographie

Außer Kontrolle

Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger drängt auf eine Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung. Als Hauptargument muss erneut die Kinderpornographie bzw. der Kampf gegen diese herhalten

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Der Beruf des Innenministers scheint bei seinen Trägern eine Art Mutation hervorzurufen. Kaum im Amte geben sie sozusagen die Besonnenheit und die Fähigkeit, Themen von allen Seiten zu betrachten, an der Garderobe ab, schlüpfen in den "Law & Order"-Anzug und fordern neue Befugnisse am laufenden Band. Egal welcher Partei angehörend, neben "wir brauchen härtere Strafen", "wir brauchen mehr Möglichkeiten für die Strafverfolgung" und dergleichen mehr, ist für Gesamtbetrachtungen kein Platz.

Seit das Bundesverfassungsgericht der Vorratsdatenspeicherung (VDS) in seiner bisherigen Form eine Absage erteilte, rottet sich das Rudel der Innenminister zusammen und fletscht die Zähne Richtung Bundesjustizministerium, von den Lefzen tropfen die Anklagen darüber, dass die Ministerin nichts täte, um z.B. Kinderpornographie zu bekämpfen.

In das Rudel dieser knurrenden und bellenden Minister hat sich nun auch der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger eingereiht. Ralf Jäger folgt damit dem bis 2010 im Amte gewesenen Ingo Wolf, was Law & Order-Denken angeht. Ingo Wolff hatte immerhin das nordrhein-westfälische Verfassungsschutzgesetz zu verantworten, das nicht nur ad hoc eine Onlinedurchsuchung ermöglichen sollte, sondern zudem auch so löcherig gestrickt war, dass das Bundesverfassungsgericht neben dem Grundrecht auf "Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme" auch noch die Nichtigkeit des Gesetzes feststellte. Nun also nach dem datenhungrigen Wolf ein datenhungriger Jäger, der unbedingt die VDS möglichst schnell etabliert haben möchte.

Ralf Jäger, der auf Abgeordnetenwatch immerhin den Erklärbär gibt, was den Unterschied zwischen "summarischen Angaben" und "statistischen Angaben"angeht, kritisiert, dass allein im Jahr 2010 in 172 Fällen von Kinderpornographie wegen fehlender Telekommunikationsdaten nicht ermittelt werden konnte. Ohne die Verbindungsdaten kann nicht nur die Verbreitung dieser schrecklichen Bilder und Videos nicht unterbunden werden. Vielmehr kann der dahinter stehende schwere sexuelle Kindesmissbrauch nicht ermittelt und das Leiden der Opfer nicht gestoppt werden, so Jäger.

172 Fälle von Kinderpornographie, im Teaser des Artikels mit "weit über hundert Fällen" umschrieben, was auch dramatischer klingt, ist eine Zahl, die ihre emotionale Wirkung nicht verfehlt. Auch darin sind sich die Innenminister einig - Emotionalisierung von Themen, die Faktenlösung zugunsten von Annahmen und der Beschwörung von Elend und Chaos, sollten nicht die gewünschten Befugnisse gewährt werden, machen sich medial immer gut.

Es lohnt kaum mehr, das "Kinderpornographie ist ein Kampfbegriff"-Fass aufzumachen und mit der Schöpfkelle all die bekannten Argumente herauszuholen, die in Endlosschleife schon den VDS-Befürwortern vorgedudelt werden wie ein Ohrwurm. Ebenso wenig lohnt es sich, die Statistiken in Bezug auf Aufklärungsquoten herauszuholen, wenn sich die Worte "Kinderpornographie, Opfer, schreckliche Bilder" bereits zu einer düsteren Wolke der Verdammnis verdichtet haben, die die Sicht auf das Problem der Kinderprostitution, -armut, -misshandlung, -sexualisierung verdeckt.

Für die "wir müssen was tun"-Fraktion ist Kinderpornographie nur eine Würze, die sie nutzen, um den bitteren Geschmack der Pille, die sie der Bevölkerung zu schlucken geben, zu übertünchen. Woraus diese Würze gemacht wird ist für sie unerheblich - Hauptsache, sie ist vorhanden. Das Verhalten der VDS-Freunde ist das von Hauseigentümern, die zur Verhinderung von Schimmel eine dicke Schicht Farbe auf die betroffenen Stellen auftragen und, sobald sich erneut grün-schwarze Flecken bilden, nach mehr Farbe rufen.

Wieso es Kinderpornographie überhaupt gibt und in welchen Formen, ob alle diese Formen mit dem Begriff richtig bezeichnet werden, inwiefern die Kinderarmut in vielen Ländern zur Kinderprostitution und Kinderpornographie als "Abfallprodukt" beiträgt, was die zunehmende Sexualisierung der Gesellschaft sowie die Schere zwischen Arm und Reich dazu beitragen, dass auch in den westlichen Ländern die Jugendprostitution ansteigt, weil die Jugendlichen schlichtweg Sex gegen Geld anbieten, jedoch fernab der klassischen Prostitutionsform ... - Das ist nur lästiger Beifang, wenn es gilt, die Netze nach mehr Daten auszuwerfen und diejenigen, die mahnend den Finger heben, in die Ecke der Kinderpornographiebefürworter zu rücken bzw. ihnen Verhinderung von Opferhilfe zur Last zu legen.

Ralf Jäger ist da nur ein weiteres Beispiel für all jene, die zwar laut rufen, wenn es um Beschränkungen von Datenschutz und Privatsphäre geht, und dies mit der Bekämpfung von Kinderpornographie begründen, die aber bei der Frage nach Prävention höchstens ein "kein Geld" oder "nicht mein Thema" nuscheln, bevor sie erneut die Gebetsmühle anwerfen und mehr Befugnisse fordern.

All diesen (Innen)ministern und anderen Politikern, die den Begriff Kinderpornographie als willkommenen Kampfbegriff nutzen, seien Kurztrips nach Polen, Tschechien, Russland oder Thailand, nach Japan etc. empfohlen, wo sie einerseits Mädchen und Jungen treffen könnten, die sich für eine warme Mahlzeit pro Tag ausziehen, anfassen lassen oder Sex in allen Variationen anbieten; wo sie aber andererseits auch Kinder und Jugendliche treffen, die Sex als Ware ansehen, die gegen ein neues Handy, neue Kleidung oder Schmuck getauscht wird. Jugendliche, die mit ihrem Freund nur deshalb zusammen sind, weil er diese Kleidung usw. bezahlt und ihn dafür mit Zusammensein, Gesehenwerden und/oder Sex entlohnen. Zynisch betrachtet ist dies die Vorstufe zu mancher Ehe, bei der die materiellen Vorteile im Vordergrund stehen und der Sex als Gegenleistung eingefordert und gewährt wird.

Sie könnten aber auch mal in Jugendzentren und Jugendämter gehen und sich dort mit den Menschen unterhalten, die tagtäglich auch mit Kinder- und Jugendprostituion und sexueller Gewalt zu tun haben, und mit denen über ihre Überlastung, die fehlenden Gelder auch für Präventionsprogramme usw. reden. Aber ich fürchte, diese Erfahrungen werden Menschen wie Ralf Jäger nicht machen - viel bequemer lässt sich vom Büro aus das Dauerbeschallungsprogramm anwerfen, das der Bevölkerung die VDS und vieles mehr als alternativlos verkaufen soll.

Um es genauso plakativ wie Ralf Jäger zu formulieren: Indem ewig und drei Tage Gelder für ein "sicheres Netz" verpulvert werden, die unter anderem Organisationen, die sich für Netzsperren einsetzen, mit Geldern versorgen, macht sich die Politik, die dies fördert, mitschuldig daran, dass gegen sexuelle Gewalt gegenüber Kindern, gegen Kinder- und Jugendprostitution und all dem, was die Ursachen für Kinderpornographie bzw. deren Entstehung sein könnte, nichts getan wird, weil leider leider die Gelder fehlen.