"Wir wollen soziale Gerechtigkeit"

Israel: Über 300.000 Demonstranten an diesem Wochenende. Die Proteste werden von der überwiegenden Mehrheit getragen. Das könnte sich ändern, wenn die Forderungen konkreter und politischer werden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am vergangenen Wochenende war man von 150.000 Teilnehmern beeindruckt, dieses Wochenende wurden über 300.000 landesweit gezählt; manche sprechen von einer der größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes. Sicher ist allemal, die Straßenproteste in Israel, die vor drei Wochen in Tel Aviv begannen ( "Wir in Zelten, ihr da oben in Türmen", sind erheblich angewachsen.

"Wir wollen soziale Gerechtigkeit" heißt der Slogan der Proteste, die sich an zu hohen Mieten (siehe It’s all about real-estate) und Lebenshaltungskosten bei zu geringen Löhnen entzündete. Als große Gegenüber in der Berichterstattung wird häufig die Mittelklasse genannt und der neoliberale Wirtschaftskurs, den die Regierung Netanjahu, wie schon mehrere Regierungen zuvor, fährt. Zeigt sich jetzt in Israel also ein breiter Konsens gegen eine Wirtschaftspolitik, die, wie in mehreren anderen Ländern auch, vor allem ohnehin Gutgestellte bevorzugt und unterstützt und sich nicht weiter um die sozial Schwächeren kümmert?

Laut Umfragen gibt es kaum Gegner der Proteste. Die Polemiken, die zu anfangs noch das übliche Repertoire aus dem Rechts/Links/Leistungsträger/Schmarotzer-Schrank bemühten, sind in den Hintergrund getreten. Es gibt "eine große unglückliche Mittelklasse" und nur lauter Unterstützer. Auch Netanjahus Finanzminister Steinitz bezeichnete die Massendemonstrationen als "beeindruckend" und nannte die hohen Lebenshaltungskosten "ungerechtfertigt und unvernünftig". Wer ist überhaupt noch dagegen?

"88 percent of Israelis support the protest. The middle class parties lead the way: 98 percent of Kadima voters (!), 95 percent of Labor’s and even 85 percent of Netanyahu’s Likud voters find the protest just." + 972

Nur die Hälfte der Anhänger der religiösen Shas-Partei und ein Großteil der Wähler, welche hauptsächlich Siedler-Vertretern ihre Stimme geben, würden mehr dazu neigen, gegen den Protest zu sein.

So stellt nicht nur der bekannte Ha'aretz-Kritiker Gideon Levy die Frage danach, wie es um das Verhältnis zwischen einer solchen Bewegung und klaren Zielen bzw. politischen Forderungen aussieht: "Can such a mass be united around clear goals?" Seiner Beobachtung zufolge waren die Demonstrationen von den vergangenen Wochenenden von mehr Wut und Enthusiasmus getragen, gestern habe die Feierstimmung überwogen. Konkrete politische Forderungen seien im Hintergrund geblieben. Den Beteiligten klar, dass dies nicht so bleiben könne.

Der Protest definiert sich als "nicht-parteiisch", was gleichzeitig das Dach liefert, unter dem sich viele solidarisch fühlen ( Israel is beginning to celebrate a new independence). Doch was passiert, wenn die Forderungen konkret werden und politischen Lagern zugeordnet werden können, wie steht es dann um die Einheit der Bewegung?

Das könnte sich bald zeigen. Netanjahu, der sich beeilt, auf die Proteste zu reagieren, bevor sie sich deutlicher gegen ihn richten, kündigte an, dass er ein "special economic team" ins Leben gerufen habe, um Fragen der Kostensenkung zu erörtern. Zugleich dämpfte er schon mal die Erwartungen:

"We won't be able to please everyone, but we will have a real dialogue."