Im Land und in dem Städtle - regionale ALG II-Sätze als Ausweg?

Außer Kontrolle

Hans-Werner Sinn sinniert über regional unterschiedliche ALG II-Sätze. Was sich auf den ersten Blick vernünftig anhört, könnte umgesetzt zum erneuten Chaos führen.

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Schon oft wurde angesprochen, dass es an sich unfair sei, dass ein ALG II-Empfänger in einem teureren Wohngebiet ALG II in gleicher Höhe erhielt wie jemand, dessen Lebenshaltungskosten auf Grund der regionalen Begebenheiten niedriger sind. Hans-Werner Sinn hat noch einmal über diese Regelung sinniert und hält regional angepasste ALG II-Sätze ebenfalls für sinnvoll.

Was Herr Sinn und viele andere bei den Überlegungen nicht miteinbeziehen ist die Frage, inwiefern dies überhaupt umsetzbar wäre, wollte der Gesetzgeber dies ermöglichen. Denn die Lebenshaltungskosten in jedem Bereich Deutschlands zu berücksichtigen, ist keine statische Aufgabe, sie müsste regelmäßig wiederholt werden. Zum anderen ist der Bereich der Lebenshaltungskosten so vielfältig, dass es nicht ausreicht, das Preisniveau zu berücksichtigen. Wer beispielsweise auf dem Land lebt, bekommt ggf. seine Lebensmittel günstiger, doch ist die Internetversorgung gerade in den strukturschwachen Gebieten noch ein mühsames Unterfangen, oft ist lediglich ISDN möglich oder teures DSL per Satellit. Dazu kommt, dass die Verkehrsanbindungen so schlecht sind, dass Arztbesuche usw. durch die Fahrtkosten höhere Summen mit sich ziehen. Auch das müsste, wenn die Regelsätze tatsächlich fair sein sollen, mit in die Überlegungen mit hineinfließen.

Aber - wenn die Regelsätze schon fairer gestaltet werden sollen, dann stellt sich mir die Frage, wieso nicht gefordert wird, dass allgemein wieder mehr Spielraum für individuelle Regelsätze bleiben soll. Es ist kein Geheimnis und hinreichend dargelegt, dass bei der Berechnung der Regelsätze schwerwiegende Fehler gemacht wurden, bzw. so lange herumgerechnet wurde, bis das gewünschte Ergebnis von 345 (früher) Euro herauskam. Wer also hier für Fairness plädiert, der müsste zunächst einmal eine transparente und auch nachvollziehbare Regelsatzberechnung fordern, die solche Idiotien wie "das Geld, das für Maßanzüge ausgegeben wird, haben wir abgezogen" außer Acht lässt und dafür z.B. für Versicherungen auch individuelle Regelungen zulässt, die gerade auch bei der Berechnung der RS für Kinder (wie momentan ja höchstrichterlich entschieden wird) noch den Gesetzen der Logik folgt und nicht einfach meint, dass mit RS Kind = RS Erwachsener * x% alles getan ist.

Aber selbst wenn diese Fairness stattfinden würde, so wäre für diejenigen, die nunmehr in strukturschwachen Gebieten wohnen, um z.B. auch etwas besser mit dem geringen RS haushalten zu können, natürlich dieser Vorteil dahin. Es stellt sich mir die Frage, warum jemand dann überhaupt noch in den strukturschwachen Gebieten wohnen soll, so er auf ALG II angewiesen ist. Warum dann nicht gleich in eine städtische Wohnung ziehen und so natürlich dann auch wieder durch höhere Kosten der Unterkunft die ohnehin stark angeschlagenen Kassen noch mehr belasten?

Die Überlegungen, ALG II "fairer" zu gestalten, gehen weiterhin davon aus, dass die gesamte ALG II-Gesetzgebung in irgendeiner Form nachvollziehbar und logisch ist oder sein könnte, ohne zu berücksichtigen, dass letzten Endes das Gesamtkonstrukt nicht nur unlogisch ist, sondern auch schlichtweg auf dem Irrweg des "fair bezahlte Arbeit ist für alle da, und wenn wir ihn hinprügeln... Vollbeschäftigung muss erreicht werden" aufbaut. Egal, ob es heißt, dass durch hinreichende Bildung auch der letzte "äääääh-Sager" noch zum Professor werden kann (das deutsche Modell des Tellerwäschers in den USA), dass dann ja Stellen für ihn frei sind; ob davon ausgegangen wird, dass Arbeit im Sinne von Erwerbsarbeit ja von allen gewünscht wird, da sie sich sonst nutzlos fühlen (ohne zu betrachten, ob dies nicht einfach auch politisch und gesellschaftlich den Leuten so eingetrichtert wird)... immer wieder wird an einem Patienten "herumgedoktort" oder empfohlen, an ihm "herumzudoktoren", während dieser von Anfang an schon tot war.

ALG II ist in seiner Gesamtheit eine Missbildung, ein Demütigungs- und Schikanierinstrument, das Erwerbsarbeit als Lebensinhalt ansieht und "wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" wieder einführte. Die gesamten Regeln wie etwa die zu den 1-Euro-Jobber usw. helfen denen, die billige Arbeitskräfte möchten oder die bisherigen Arbeitskräfte unter Druck setzen wollen, wenn es darum geht, sie durch Billiglöhner zu ersetzen. Auch die Regelung der Hinzuverdienste passt dazu. Es geht nicht mehr darum, überhaupt in irgendeiner Form fairere Löhne zu gestalten, es geht darum, die Löhne weiter zu drücken und der Gesellschaft einzutrichtern, dass jemand nur dann ein Recht auf seine freie Lebensentfaltung, Privatsphäre und Datenschutz hat, wenn er es sich leisten kann. Wer aber vom Staat Geld bekommt (die diversen Bankrettungsprogramme usw. mal außen vor gelassen), der hat zu kuschen und die Kotbällchen wegzuräumen, die die Hunde des kapitalistischen Systemes auf den Straßen der Solidarität zurücklassen, auf dass sie wenigstens wieder hübsch aussieht - auch wenn sie nicht mehr benutzt wird.