Mehr Kapitalismus wagen

"Das Hauptopfer der andauernden Krise ist nicht der Kapitalismus, sondern die Demokratie", so Slavoj Žižek

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Slavoj Žižek ist ein global präsenter Denker, dem nicht nur ständig zu Diesem und Jenem etwas einfällt, sondern der es versteht, jederzeit auf allen und mit allen Medienkanälen zu spielen, den seriösen ebenso wie mit den trashigen. Immer ist er für eine Überraschung oder eine andere steile These gut. Zwischen vermeintlich Unvereinbaren kann er enge Beziehungen herstellen und sie ausdrucksstark ins Werk setzen. Besonders attraktiv findet er Paradoxien, also das, was zugleich ist und nicht ist, und nur dann aufhört zu existieren, wenn beides verschwindet.

Insofern bebildert er wie kein anderer "die Widersprüche des aktuellen Kapitalismus", die politökonomischen genauso wie die kulturellen. Nur der Kapitalismus mit seinem Hang zur Überproduktion vermag solche Typen hervorzubringen. Insofern ist Žižek auch Symptom.

Gleichwohl füllt er (wie im Übrigen auch sein Freund Peter Sloterdijk) die neue Rolle des dauerpräsenten Intellektuellen, die das massenmediale System produziert, bestens aus. Er liefert ihm nicht nur jene Stichworte, die den Apparat in Bewegung halten. Etwa mit der Aussage: "Ich bin ein Leninist". Mit jener Sprunghaftigkeit, mit der er seine Gedankenströme vorträgt, liefert er, ungewollt zwar, eine Kritik des derzeitigen intellektuellen Systems.

Erst im Frühjahr hat er in "Less than nothing", ohne auf historische Daten oder Fakten einzugehen, auf über tausend Seiten nachzuweisen versucht, dass Hegels eigentliche Absicht weniger die Entfaltung der Vernunft in der Geschichte war als vielmehr deren Ohnmacht. In seinen Augen war Heidegger "ein kommender Kommunist", der in seiner Nazibegeisterung damals nur den "richtigen Schritt in die falsche Richtung" unternommen hat.

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Rolle des Hofnarren

Zudem ist er wohl der letzte echte Linksradikale, der sich vor nichts fürchtet und auch vor nichts zurückschreckt. Auch nicht vor den kommunistischen "Blutsaugern" Lenin und Stalin, Mao oder Trotzki, denen er attestiert (wie im Übrigen auch Hitler), ihren intellektuellen Vorgaben nach "nicht hinreichend radikal", respektive "zu wenig gewalttätig" gewesen zu sein.

Was auch einer der Gründe war, warum sie mit ihrer Politik letztlich kolossal gescheitert sind. Die gute Idee des Kommunismus und/oder Totalitarismus schließt für Žižek den Gebrauch von Terror jedenfalls nicht aus, zumal jede echte Revolution wie wir spätestens seit Georges Sorel und Walter Benjamin "rettende", "erlösende" oder "göttliche" Elemente enthält.

Auch wegen dieser Gedanken füllt er die seit Abschaffung der Monarchie vakante Rolle des theoretischen "Hofnarren" bestens aus. Dient es der politischen Provokation oder glaubt er, seine sozial bewegten Leser oder Zuhörer auch mal richtig an den denkpolitischen Ohren ziehen zu müssen, dann (ko)operiert er auch mit "Gewaltfantasien", die er dann kongenial mit seinen anderen Leidenschaften, mit Hollywood, Hegel und Lacan verquickt.

Allerdings führt das mitunter dazu, dass er, mehr als ihm vielleicht lieb sein wird, zwischen Genie und Wahnsinn operiert, wenn er zur Feder greift oder seine sprunghaften Gedanken in die Tasten haut. Dann kommt es schon vor, dass ihm wahre Sprach- und Denkperlen gelingen oder er einfach nur politischen Blödsinn daherredet.

Scheitern total

Zuletzt scheint er emotional aber etwas geknickt zu sein. Politisch jedenfalls wirkt er resigniert. "Living in the End Times", lautete folglich auch der Titel seines anderen jüngsten Buches, das wohl auch als persönliches Statement seiner augenblicklichen Verfassung zu lesen ist. Zumal die Krise des "räuberischen, unregulierten Kapitalismus" nicht den gewünschten Effekt gehabt hat und der sozialistische Umschlag wieder nicht geglückt ist. Weder ist es zu einem Umsteuern des Wirtschaftens gekommen noch hat die Krise das politische Handeln nachhaltig verändert oder zu massiven Eingriffen in die Wirtschaft geführt.

Lapidar und nüchtern stellt er jüngst in einem kurzen Beitrag für Foreign Policy fest, dass die Finanzkrise den globalen Kapitalismus nur kurz geschadet hat, aber an der "fundamentalen Natur" des weltweiten Wirtschaftens nichts verändert habe.

Gewiss hat so mancher danach seinen Karl Marx wieder neu entdeckt. Schon zuvor habe es viel Kapitalismuskritik gegeben, an Unternehmen, Arbeitsbedingungen und Umgang mit der Natur. Von der anvisierten Regulierung und Einhegung der Finanzmärkte ist aber wenig geblieben. Nicht nur flössen die Gewinne nach einer kurzen Verschnaufpause wie eh und je. Auch die Finanzjongleure machten längst dort weiter, wo sie vor der Krise aufgehört hätten.

Und auch alle anderen politischen Hoffnungen und Träume, die sich die radikale Linke noch im letzten Jahr gemacht habe, von den Arabellionen über Occupy bis hin zur griechischen Anti-Austerity-Politik, sei nichts von Bestand geblieben. In Kairo, Tripolis und Tunis gewännen fundamentalistische Gedanken an Attraktivität, die Zeltlager vor den Finanzmetropolen seien zuletzt sang- und klanglos von der Polizei geräumt worden und in Athen sei die Dynamik der Syriza-Partei nach den Wahlen im Sommer politisch erlahmt und ausgebremst worden.

Genutzt habe die Krise bestenfalls den Gegnern und Feinden der radikalen Linken. "Rassistische Populisten", Nationalisten und Separatisten witterten wieder Morgenluft, in Europa ebenso wie in den nicht-entwickelten Staaten. Und das obwohl die soziale Schere sich weiter öffne und die soziale Ungleichheit so groß sei wie niemals zuvor. Statt gegen diese sozialen Missstände zu opponieren, kümmerten sich Menschen wieder mehr um ihre Fundamentaldaten, um Haus und Hof, um Job und Sparkonto.

Den Hauptgrund, warum nach der weltweit schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise post WK II wieder Business as usual herrsche, lokalisiert Zizek in der Tatsache, dass niemand der politischen Aktivisten während der Krise das "bürgerliche Recht" infrage gestellt habe, auf dem dieser Kapitalismus letztlich gründe. Diese "heilige Kuh" habe sich weder Occupy noch das World Social Forum zu schlachten getraut.

Mehr Kapitalismus

Kein Wunder, dass Žižek vom Gedanken einer Zähmung und/oder "Demokratisierung" des Kapitalismus Abschied nimmt. "Das Hauptopfer der andauernden Krise ist nicht der Kapitalismus, sondern die Demokratie", schreibt er. Die politische Linke habe es in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht verstanden, eine globale Alternative zum Kapitalismus zu entwickeln. Die Krise zeige, dass "das Versagen des Kapitalismus nur mit einem mehr an Kapitalismus zu lösen" sei.

Das Reich der Mitte sei dafür seiner Ansicht nach bestens gerüstet. Die chinesische Herausforderung mache deutlich, dass Autokratie und Kapitalismus sich nicht widersprechen müssen und Demokratie keinesfalls der "natürliche Begleiter" des Kapitalismus sein muss. Es könnte mithin durchaus auch sein, dass der "autoritäre Kapitalismus" weniger Übergang als vielmehr Endpunkt einer Entwicklung ist, auf die hin die Geschichte sich bewege.

"Der Kapitalismus ist nicht bloß eine historische Epoche unter anderen [...] Francis Fukuyama hatte recht: Der globale Kapitalismus ist das 'Ende der Geschichte'." Schon Leo Trotzki habe mit Blick auf das zaristische Russland vor hundert Jahren vermutet, dass sich die "asiatische Peitsche bestens mit der europäischen Börse verbinden lasse."

Was auf den ersten Blick als "politisch radikal" und originell erscheint, ist so radikal und originell wiederum nicht. Vor Žižek haben das bereits andere Beobachter behauptet und ausführlich darüber sinniert. Zuletzt etwa Robert Kagan in seinem Essay über "Die Demokratie und ihre Feinde".

Der wirtschaftliche Höhenflug Russlands und vor allem Chinas beweise, so der neokonservative Großdenker, dass sich Wohlstand und Autokratie keinesfalls widersprechen müssen. Prosperität und Sicherheit lassen sich auch herstellen, ohne dass ein Land gezwungen ist, den Preis politischer Liberalisierung zu zahlen.

Um dieser Beobachtung etwas abzugewinnen, muss man den Blick nicht unbedingt nach Fernost richten. Auch in Brüssel oder Berlin wird man diesbezüglich rasch fündig. Längst ist der politische Autokratismus auch dort auf dem Vormarsch. Mit ihren diversen Rettungsschirmen haben die Euro-Retter die Politik- und Haushaltshoheit der Parlamente ausgehebelt und Entscheidungen darüber in die Hinterzimmer politisch nicht-legitimierter Gremien und Behörden verlegt, deren Akteure später dafür auch nicht haftbar gemacht werden können.

Kapitalismus funktioniert

Auch die Idee, die Krise des Finanzkapitalismus mit noch mehr Finanzkapitalismus zu lösen, ist alles andere als neu. Der renommierte Yale-Ökonom Robert Shiller, Favorit auf den Nobelpreis für Wirtschaft, vertritt diese Ansicht schon seit Jahren und hat sie gerade in seinem Buch "Märkte für Menschen" noch mal für alle aufgeschrieben.

"Trotz seiner Makel und Exzesse", schreibt er, "ist der Finanzsektor eine Kraft, die uns helfen kann, eine bessere, wohlhabendere und ausgeglichenere Gesellschaft zu schaffen. Die Finanzwirtschaft war bislang sogar ein zentraler Faktor für den Aufstieg reicher Marktwirtschaften in der Moderne."

Gewiss sei der Kapitalismus nicht perfekt, aber er funktioniere, sagt er. China habe das entdeckt, Indien auch. Durch die Krise werde diese Erfahrung weder aufgehoben noch falsifiziert. Vielmehr müsse man den Kapitalismus verbessern und ihn nicht aufgeben oder verlassen.

Das Leben der Menschen sei nun einmal mit Risiken behaftet. Das wirksamste Mittel, um sich dagegen zu versichern, die gesellschaftlichen Probleme der Gesellschaft zu meistern und das Gemeinwohl zu stärken, seien gut funktionierende Finanzmärkte. Daher sei "die Gesellschaft am besten beraten, wenn sie Finanzinnovationen zulässt, statt sie einzudämmen". Zu effizienten Märkte gibt es mithin keine echte Alternative, sie sind eine entscheidende Voraussetzung für Kultur und Zivilisation. Aufgabe der Politik ist es daher, für wohlgeordnete Märkte zu sorgen und die Gier einzelner nicht überborden zu lassen.

Autokratismus auch

Gewandelt hat sich aber auch der Autokratismus. Massenverhaftungen oder Exekutionen, wie sie noch Mitte des letzten Jahrhunderts in Süd- und Mittelamerika oder anderswo üblich waren, findet man nur noch in den politischen Hinterhöfen Afrikas. Moderne Autokraten suchen ihr politisches System zu erneuern, es flexibler, widerstandsfähiger und vor allem leistungsfähiger zu machen.

"Auch Diktatoren lernen", meint etwa William J. Dobson, Redakteur bei Slate.com und Autor von "Diktatur 2.0", das soeben im Blessing Verlag erschienen ist, herausgefunden zu haben. In vielen persönlichen Begegnungen mit politischen Aktivisten und Aktivistinnen in Russland, China, Venezuela oder Ägypten, geht er dieser Frage nach und zeigt, welche sanfteren Mittel und Wege moderne Autokraten einschlagen, um an der Macht zu bleiben und das Volk davon fern halten.

Moderne politische Führer wissen um die Macht von Bildern und sozialen Netzwerken. Darum verfeinern sie ihre Apparate und passen sie den modernen Zeiten und veränderten Bedingungen an. Auch sie legen vermehrt Wert auf ihr Renommee und ihr internationales Image. Statt Wahlen zu sabotieren oder zu manipulieren, lassen sie wählen, sie sorgen für Rotation in den Parteikadern oder in der Führung und geben dem Volk auch manches soziales Zuckerl, um es ruhig zu halten.

Ein soziales System

Insofern könnte sowohl Žižek, der radikale Linke, als auch Kagan, der Neokonservative, am Ende falsch liegen. Weder wird der Kapitalismus seine zwangsläufige Erfüllung in den "asiatischen Werten" finden. Noch wird der wirtschaftliche Aufstieg, den Russland und China genommen haben, den liberalen Westen einen neuen Antagonismus von "welthistorischen Ausmaß" aufzwingen.

Es könnte daher gut sein, dass sich Westen und Osten nicht wie einst die Arianer und die Athanasianer in der Frage der Trinität bekriegen, sondern dass sich die alte "Konvergenztheorie", die die Angleichung von links und rechts, von Ost und West prognostiziert hat und die Entwicklung auf eine einzige Gattung von politischen Systemen zulaufen sieht, auf Staaten, die von demokratiefernen Organisationen und Verwaltungsapparaten regiert werden, sich doch noch erfüllt.

Mit verträumter Melancholie und voller Rührung blickte einst Adorno, der diese Tendenz Mitte letzten Jahrhunderts offenbar auch emotional erspürt hatte, auf die Welt der Zyklopen, über die Homer einst dichtete: "Dort ist weder Gesetz, noch Ratsversammlung des Volkes, /Sondern all' umwohnen die Felsenhöhn der Gebirge/ Rings in gewölbeten Grotten; und jeglicher richtet nach Willkür / Weiber und Kinder allein." Davon sind wir mittlerweile aber Lichtjahre entfernt.

Literatur:

Slavoj Žižek, Less Than Nothing: Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism , Verso Books, 1,038 pp., $ 69.95

Slavoj Žižek, Living in the End Times , Verso Books, 504 pp., $ 22.95

Slavoj Žižek, The Year of Dreaming Dangerously. On the Arab Spring, Occupy Wall Street, Anders Breivik’s Christianity, and the politics of Batman ..., Verso Books 2012, 142 pp., $14,95

Robert Shiller, Märkte für Menschen. Aus dem Englischen von Petra Pyka, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2012, 376 Seiten. 34,99 €

William J. Dobson, Diktatur 2.0. Aus dem Amerikanischen von Enrico Heinemann und Karin Schuler, Blessing Verlag München 2012, 496 Seiten, 19,95 €