Ein angemessenes Gehalt? Aber es gibt doch ergänzendes ALG II

Außer Kontrolle

Nachträgliche Gedanken zum "Tag der Arbeit": Wer ist eigentlich arbeitslos? Und gehört ALG II zum Arbeitsentgelt?

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Der 1. Mai ist sowohl in Deutschland als auch in Österreich (u.a.) gesetzlicher Feiertag, was bedeutet, dass er gemeinhin als arbeitsfreier Tag gilt. "Arbeitsfrei" ist letztendlich jedoch eine Definitionsfrage, da auch an den gesetzlichen Feiertagen eine Vielzahl von Menschen der Erwerbstätigkeit nachgeht und wieder andere arbeiten, ohne dass dies im Sinne der Erwerbstätigkeit als Arbeit angesehen wird. Um den Begriff "Arbeit" hier nicht zu verwässern, sei er im folgenden durch Erwerbstätigkeit ersetzt, wobei dies nicht bedeuten soll, dass durch diese Tätigkeit ein Einkommen erzielt wird, welches das Existenzminimum erreicht oder gar überschreitet. Vielmehr soll die Erwerbstätigkeit lediglich bedeuten, dass für die geleistete "Arbeit" auch ein Geldbetrag gezahlt wird.

"Entlastung der Arbeitslosigkeit"

Die amtliche Statistik, die regelmäßig herausgegeben wird, um darzustellen, wie viele Menschen in Deutschland arbeitssuchend sind, irritiert diesbezüglich. Oft wird "arbeitslos" bzw. "arbeitssuchend" in der Wahrnehmung mit "ohne Erwerbstätigkeit" gleichgestellt. Doch wer sich die Statistik anschaut, stellt fest, dass eine Vielzahl von Menschen nicht in die "Arbeitslosenstatistik" einfließt, sondern im Bereich der "Unterbeschäftigten" angesiedelt wird.

"Teilnehmer ohne Arbeit und registrierte Arbeitslosigkeit" wird dieser Bereich genannt und enthält ein buntes Gemisch aus Gründen dafür, warum jemand trotz fehlender Erwerbstätigkeit nicht als "arbeitslos" angesehen wird. Hier finden sich Teilnehmer von Eingliederungsmaßnahmen (ca. 170.000), ca. 108.000 Personen in Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung (AGH-MAE, 1-Euro-Jobs im Volksmund genannt) ebenso wieder wie Arbeitssuchende über 58 Jahre, die seit 12 Monaten kein Arbeitsangebot mehr erhielten, Teilnehmer am Projekt Bürgerarbeit (ca. 28.000) sowie auch fast 90.000 kurzfristig Arbeitsunfähige. Dabei sind gerade auch jene, die in einem AGH-MAE tätig sind, angehalten, sich nach einer Erwerbstätigkeit umzusehen, die ihre Bedürftigkeit reduziert, d.h. sie sind schon von Amts wegen weiter arbeitssuchend. Hier zeigt sich, wie stark die Statistik und die Lebenswirklichkeit auseinanderklaffen und wie diese Diskrepanz dann auch die offiziellen "Arbeitslosenzahlen" beschönigt.

"Entlastung der Arbeitslosigkeit" wird diese Aufteilung der Statistik offiziell genannt, sie soll dazu dienen, ein möglichst umfassendes Bild vom Defizit an regulären Erwerbstätigkeiten darzustellen. Durch die vielfach verkürzte Darstellung der "Arbeitslosigkeitszahlen", die auch von der Politik verwandt wird, läuft dieses hehre Ziel jedoch ins Leere bzw. verkehrt sich ins Gegenteil – statt ein umfassendes Bild abzugeben wird die "entlastete Arbeitslosigkeit" als Gesamtarbeitslosigkeit dargestellt und das Gesamtbild dadurch verfälscht.

Gerade auch in Zeiten, in denen die Agenda 2010 mit all ihren Auswirkungen als Erfolg gepriesen wird, dienen diese entlasteten Arbeitslosigkeitszahlen letztendlich dazu, ein positives Bild der Agenda 2010 und ihren Folgen zu entwerfen. Dabei wird oft außen vor gelassen, dass insbesondere der starke Ausbau des Niedriglohnsektors ein Ziel der Agenda 2010 war. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte dies auch in seiner Rede in Davos als Erfolg betrachtet, als er sagte, dass Deutschland durch die von ihm vorangetriebenen Reformen den besten Niedriglohnsektor Europas vorweisen könne.

"Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert.
Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt."
(Gerhard Schröder auf dem World Economic Forum in Davos, 2005)

Notfalls wird halt aufgestockt

Während von den Freunden der Arbeitsmarktliberalisierung stets betont wird, dass es nun einmal Menschen gibt, die weniger produktiv sind und daher auch lediglich mit niedrigen Löhnen auskommen müss(t)en, zeigte sich bereits am Beispiel der 1-Euro-Jobs, was die "Liberalisierung des Arbeitsmarktes" mit sich brachte: Wer Menschen eine Erwerbstätigkeit mit einem geringen Einkommen anbot, wurde hierfür großzügig belohnt. Mangelnde Prüfung der gesetzlichen Vorgaben für 1-Euro-Jobs etc. taten ihr Übriges, um eine Art Niedriglohnindustrie zu bilden, die sich ihre geringen Löhne deshalb leisten konnte, weil der "Staat" die Steuern dafür verwandte, diese Löhne wieder aufzustocken, um damit den Menschen, die unfreiwillig im Niedriglohnsektor steckten, ein Auskommen zu ermöglichen.

Dieses Prinzip widerspricht letztendlich dem, was bereits 1961 in der Sozialcharta vereinbart wurde, die auch Deutschland unterzeichnete. Diese Sozialcharta besagt, dass ein Arbeitnehmer ein Recht auf ein angemessenes Arbeitsentgelt hat. Dieses muss ausreichen, um den Arbeitnehmern und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.

Das Wort "angemessen" ist letztendlich Auslegungsache, weshalb 2006 beispielsweise ein Arbeitnehmer vor Gericht zog und angab, seiner Meinung nach genüge seine Erwerbstätigkeit nicht diesen Ansprüchen, da er trotz einer Vollzeitstelle lediglich 48% des durchschnittlichen Nettolohnes erhalten würde. Der Ausschuss für soziale Rechte stellte diesbezüglich fest, dass die Lage in Deutschland nicht den Bestimmungen von Artikel 4, Absatz 1 der Charta" entspreche und erteilte Deutschland diesbezüglich eine Rüge. Doch die Bundesregierung, die auf eine kleine Anfrage antwortete, die von der Linken-Abgeordneten Sabine Zimmermann zum Thema Lohndumping gestellt wurde, zeigt sich diesbezüglich recht simpel gestrickt: Sie ersetzt das Arbeitsentgelt letztendlich durch das, was der Arbeitnehmer inklusive eventuell zustehender Sozialleistungen erhält. So sieht sie die steigende Zahl der Niedriglohnbereiche als nicht wirklich dramatisch, da ja jeder, der in diesem Bereich tätig ist, die Möglichkeit hat, ergänzende Sozialleistungen z.B. in Form von ALG II zu erhalten.

Einfach ausgedrückt bedeutet dies, dass die Regelungen der Sozialcharta hinsichtlich des "Arbeitsentgeltes" ad absurdum geführt werden, da das Arbeitsentgelt, das vom Arbeitgeber gezahlt wird, nicht wirklich für einen angemessenen Lebensstandard mehr ausreichen muss. Verstößt ein Arbeitgeber also gegen die in der Charta vereinbarten Vorgaben, so springt ja der "Staat" ein und stockt die fehlende Summe z.B. durch ALG II auf. Dies bedeutet aber, dass die Charta komplett ignoriert werden kann und sich die Arbeitgeber auf keine Grenzen nach unten einrichten müssen, was die Arbeitsentgelte angeht.

Hier wird letztendlich ein Tanz um das Goldene Kalb Vollbeschäftigung ausgeführt, der die Erwerbstätigkeit um jeden Preis als Nonplusultra behandelt und dies immer wieder auch durch Subventionen in Form von Steuergeldern unterstützt. Profiteure dieses Denkens sind die Arbeitgeber, die durch dieses Prinzip stets auf einen Pool von Niedriglöhnern zugreifen können, die nicht zuletzt durch die Regelungen des SGB II auch noch die schlechtbezahlteste Erwerbstätigkeit annehmen müssen, um nicht komplett ohne jegliche finanzielle Leistung zu sein.