Nestlé wegen Bespitzelung linker Aktivisten vor Gericht

Der Schweizer Konzern beauftragte eine Sicherheitsfirma mit der Ausforschung kritischer Kampagnen. Im Gegensatz zur deutschen E.on steht Nestlé deshalb vor Gericht

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Ein Bericht des Westschweizer Fernsehens TSR machte unter dem Titel "Securitas. Sie werden durch eine private Firma überwacht" 2008 öffentlich, dass der Schweizer Konzern Nestlé eine Ortsgruppe des damals starken globalisierungskritischen Netzwerks Attac ausforschen ließ. Den Auftrag bekam die ebenfalls in der Schweiz ansässige Sicherheitsfirma Securitas, ausgeführt wurde er von deren Abteilung "Investigation Services". Unter der Identität "Sara Meylan" trat eine Securitas-Mitarbeiterin als vermeintliche Versicherungsangestellte der Attac-Gruppe bei und besuchte über zwei Jahre deren Sitzungen in öffentlichen Räumen und Privatwohnungen.

Anfangs behaupteten Securitas-Sprecher, die Bespitzelung habe nur anlässlich des französischen G8-Gipfels 2003 stattgefunden, der teilweise im schweizerischen Genf und Lausanne ausgetragen wurde. Ziel der Infiltration waren jedoch Arbeiten an dem kritischen Buch "Nestlé - Anatomie eines Weltkonzerns", an dem die Aktivisten arbeiteten. "Sara Meylan" erhielt Zugang zu allen Texten, die für die spätere Veröffentlichung in dem Buch vorbereitet wurden. Ihre detaillierten Berichte enthielten zudem Angaben zu Autoren, deren Quellen sowie Kontakte in der Schweiz und im Ausland.

Mindestens drei Spitzel im Auftrag von Nestlé

Doch Nestlé ging noch weiter: Wenige Monate später deckten Redakteure des TSR auf, dass der Konzern auch andere Organisationen infiltrierte. Unter dem Decknamen "Shanti Müller" schickte Nestlé eine weitere Ermittlerin ins Rennen, die anscheinend zwischen 2002 und 2005 aktiv war. Nach zwei Wochen flog schließlich eine dritte Spionin auf, die laut Attac bis 2008 unter ihrem richtigen Namen bei dem Netzwerk aktiv war. Die Polizei im Kanton Waadt wusste von den geheimen privaten Recherchen.

Die Enthüllungen stießen auf breite Empörung. Der Informationschef des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten erklärte, Überwachungen von Privaten durch Private seien stark reglementiert. Wenn Privaträume betreten werden, brauche es einen richterlichen Beschluss. Der Verband "Aktionärinnen und Aktionäre für nachhaltiges Wirtschaften" kritisierte anlässlich der Nestlé-Generalversammlung, dass ausspionierten Personen aus Ländern, in denen die Menschenrechte nicht garantiert sind, nun eine besondere Gefahr drohe. Sogar der Verband Schweizerischer Polizeibeamter verurteilte die Spitzelei – wohl aus Sorge um das staatliche Schnüffelmonopol. "Präventive Informationsbeschaffung" sei ausschließlich Sache staatlicher Behörden, moniert die Polizeivereinigung und fordert Konsequenzen für die polizeiliche Zusammenarbeit mit Securitas.

Deutsche E.on lässt Klimaaktivisten ausspionieren

Der Schweizer Spitzel-Skandal markiert einen undurchsichtigen Sumpf privater Sicherheitsfirmen, die im Auftrag multinationaler Konzerne linke Zusammenhänge ausspähen ( Mit falschen Papieren gegen "Euro-Anarchisten"). So berichtet es auch die britische Tageszeitung Guardian: Laut einem ehemaligen britischen verdeckten Ermittler habe die Zahl privater Spitzel erheblich zugenommen und sei höher als jene der Polizei . Die Firmen werden häufig von ehemaligen Polizisten gegründet und verfügen über gute Beziehungen in den Polizeiapparat.

Die britische Vericola bietet beispielsweise eine "diskrete Beobachtung" politischer Gruppen an, damit diese nicht den "Ruf einer Firma ruinieren". Auch die deutsche Firma E.ON lässt klimapolitische Aktivisten ausforschen. Der Energiemulti beauftragte hierfür neben "Vericola" die Firma "Global Open" in Großbritannien mit Spitzeldiensten. "Global Open" bewirbt ihre Spezialitäten in den Bereichen "Tierrechte, Umweltangelegenheiten, Korporatismus, Anti-Globalisierung".

Laut dem Guardian hat auch der britische Polizeispitzel Mark Kennedy zeitweise für "Global Open" gearbeitet. Der auch in Deutschland aktive Kennedy gründete unter dem Label "Tokra" und "Black Star High Access Limited" sogar eigene Firmen, von denen eine unter der gleichen Adresse wie "Global Open" firmierte.

Britische Polizeispitzel werden sogar immer noch von einem privaten Zusammenschluss hoher Polizeibeamter geführt: Die "Association of Chief Police Officers" (ACPO) ist seit 1997 als privatrechtlicher Verband organisiert, weshalb sie nicht wie andere polizeiliche Organe auskunftspflichtig ist. Nach weitreichenden Skandalen um britische verdeckte Ermittler sollte der ACPO eigentlich die Kompetenz zu deren Führung entzogen werden. Passiert ist außer kosmetischen Korrekturen nichts - lediglich einige Abteilungen wurden umbenannt und umstrukturiert.

Auch die Beziehungen zu deutschen Behörden sind weiter ungetrübt: Die ACPO ist Mitte Februar auf der Verkaufsmesse "Europäischer Polizeikongress" vertreten und unterstützt diese laut Programm ebenso wie das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz.

Hoffnung auf Gerichte

Häufig helfen nur juristische Initiativen, um überhaupt Klarheit über die verdeckten Machenschaften privater oder polizeilicher Spitzel zu erlangen. In Großbritannien haben sich jetzt acht Frauen entschlossen, gegen fünf Polizisten vor Gericht zu gehen: Über bis zu neun Jahre hatten die Spitzel sexuelle Beziehungen mit den Aktivistinnen betrieben, um linke Bewegungen auszuforschen ( Emotionaler und sexueller Missbrauch durch Polizisten wird öffentlich).

Sofort nach der Enttarnung der privaten Schnüfflerin stellte auch Attac Schweiz zusammen mit anderen Autoren des durch Nestlé ausgeforschten Buches "Nestlé - Anatomie eines Weltkonzerns" eine Strafanzeige gegen Nestlé und Securitas. Der kantonale Untersuchungsrichter musste fortan wegen "Verletzung der Bestimmungen des Strafgesetzbuches zum Schutz des Privatbereichs" und "Verletzung des Datenschutzgesetzes" ermitteln. Weder Securitas noch Nestlé informierten von sich aus über die Infiltrierung. Beide behaupteten etwa nach der Enttarnung von "Sara Meylan", dies sei das Ende des Spitzeleinsatzes gewesen. Nachdem zwei weitere Frauen aufflogen hieß es beschwichtigend, diese hätten später keine vertraulichen Berichte mehr verfasst.

Das Strafverfahren erwies sich jedoch als erfolglos: Obwohl auch die Staatsanwaltschaft dem Untersuchungsrichter eine mangelhafte Untersuchung attestierte, stellte dieser das Verfahren nach einem Jahr ein: Die Angelegenheit würde keine Rechtsverletzung darstellen, einzig das Datenschutzgesetz sei verletzt worden. Dies sei aber verjährt.

Keine Aufklärung der Spitzelei von E.on

Mehr Hoffnung verspricht indes ein Zivilverfahren, das die Aktivisten wegen "Verletzung der Persönlichkeit" ebenfalls 2008 eingereicht hatten. Nestlé und Securitas sollen richterlich gezwungen werden, alle Ergebnisse der Überwachung vorzulegen und ihren Zweck mitzuteilen. Die Kläger wollen die Firmen dann wegen gesetzwidriger Überwachung und Datensammlung verurteilt wissen. Außerdem fordern sie mehrere Tausend Euro Schadensersatz für alle Betroffenen.

Am Dienstag und Mittwoch findet nun die Hauptverhandlung vor dem Bezirkszivilgericht von Lausanne statt. Die Anhörungen der Zeugen verspricht spannende Erkenntnisse über die Spitzelei privater Sicherheitsdienste in linken Zusammenhängen: Gehört werden Mitarbeiter von Securitas, die vertrauliche Berichte verfassten sowie Angestellte von Nestlé, die sie angefordert haben.

Ob das Gerichtsverfahren allerdings die Spionage multinationaler Konzerne innerhalb linker Zusammenhänge ernsthaft einschränken kann, ist fraglich. Interessant wäre überdies, auch die Spitzelei von E.on bei klimapolitischen Aktivisten juristisch aufzuarbeiten.